Ich bin eine Künstlerin. Du bist eine Künstlerin oder ein Künstler. Tja, ich sehe, Du runzelst die Stirn. Genaugenommen hast Du das schon gemacht, als Du den Titel meines Blogbeitrags das erste Mal gesehen hast… Ist schon gut, das versteh ich ja, Du hast mich nie als Künstlerin betrachtet. Und Dich selbst vermutlich auch nicht, oder? (Bitte verzeih mir, falls ich Dir mit dieser Annahme unrecht tue!) Dann versuche ich Dir hier mal zu erklären, was meine Deutung des Begriffes “Künstler” ist.
“Jedes Kind ist ein Künstler. Das Problem ist nur, wie man ein Künstler bleibt, wenn man größer wird.” – Pablo Picasso
Es geht mir bei dieser Bezeichnung nicht um die Befähigung zur Ausübung gewisser Techniken wie Bildhauerei, Obertongesang oder Eitempera, nein. Es geht mir viel mehr um den Aspekt der individuellen Kreativität… um meine und Deine, ja, die allgemein dem Menschen innewohnende Fähigkeit, Neues zu schaffen. Bekannte, vorhandene Dinge neu miteinander zu verknüpfen. Das tun wir alle ständig, ob wir die Zeitung lesen, Häuser entwerfen, Briefe austragen oder Datenbanken pflegen.
Wir verarbeiten das, was unsere Sinne wahrnehmen, verknüpfen es mit der Summe unserer Erfahrungen, und handeln dann.
Wir backen, bauen, summen, schreiben Briefe, programmieren, sprechen, entwerfen… wir tun. Wir kreieren. Wir schöpfen.
Da nun keine zwei Menschen exakt zur selben Zeit am selben Ort sein können, also nicht dieselben Eindrücke empfangen, und selbst Zwillinge unterschiedliche Lebenserfahrungen machen, mit denen sie die neuen Daten verknüpfen…nun, wie Du siehst handelt jeder Mensch individuell aufgrund einzigartiger Prämissen. Wer schon mal versucht hat ein Rezept exakt nachzukochen, oder ein Bild, einen Look oder was auch immer zu kopieren… weiß Bescheid. Soweit dazu.
Warum aber erscheinen uns Künstler im öffentlichen Bewusstsein eher als besondere, eigenartige, ja: auserwählte Wesen?
Die gesamte west- und mitteleuropäische Kulturgeschichte aufzurollen liegt jetzt weder in meiner Absicht noch innerhalb meiner Möglichkeiten, aber ich möchte ein paar Zitate zum Thema betrachten:
- “Der Künstler verschließt die Augen vor der äußeren Welt und wendet den Blick auf die subjektiven Landschaften seiner Seele.” – José Ortega y Gasset
- “Ein großer Künstler sieht die Dinge niemals so, wie sie sind. Sähe er sie so, wäre er kein Künstler mehr.” – Oscar Wilde
- “Künstler ist nur einer, der aus der Lösung ein Rätsel machen kann.” – Karl Kraus
Nun, Künstler nehmen also etwas anderes als die schnöde Realität des Alltags wahr… man könnte sagen, dass sie hinter die Fassade schauen, oder auch in dem wildesten Chaos eine spezielle Ordnung erkennen können, denn
es gehört zur Künstlernatur, einen anderen Blickwinkel zu haben, mit der Wahrnehmung der Realität zu spielen, sich selbst etwas zu ver-rücken.
Und immer auch der Blick nach Innen, in die oben zitierten Landschaften seiner Seele, in die ganz persönlichen Verknüpfungen. Künstler zu sein bedeutet mir nicht unbedingt ein reicheres inneres Geschehen zu haben als jeder andere Mensch, sondern eher, diese inneren Vorgänge bewusster zu erleben, direkt unter der Haut zu tragen und in alle Entscheidungen und Argumentationen einzubeziehen. (Hier mag die Frage erlaubt sein, ob Hochsensible also per se zum Künstler prädestiniert sind…) Wenn ich meinen bewusst eigenartigen Blick auf die Wirklichkeit mit meinen ganz persönlichen Gedankenwelten verbinde, dann kann ich sicher aus der “Lösung ein Rätsel machen”, also für manch andere unverständlich sein, oder was meinst Du?
Wer anders ist, bekommt gewöhnlich Probleme. Es sei denn, er beruft sich auf die Narrheit, auf die sprichwörtliche Ver-rücktheit des Künstlers.
Kinder und Narren dürfen in unserer Kultur die Wahrheit sagen, sind nicht gefangen innerhalb des Konformitätszwanges, innerhalb des “Richtigen”. Es wird geradezu erwartet, daß Künstler provozieren, irritieren und in Frage stellen. Sie sollen Aussagen zur gesellschaftlichen Situation machen oder mindestens zur conditio humana – der Künstler soll mehr Philosoph als Dekorateur sein. Er befindet sich in einer Beobachterposition ausserhalb der Masse. Nicht unbedingt geliebt, aber akzeptiert. Um nicht zur Bedrohung zu werden – und mich damit selbst zu gefährden – darf ich gerne das Klischee des Künstlers vor mir hertragen, als weltfremd oder exzentrisch durchgehen. (Nur nicht übertreiben, sonst wird womöglich versucht zu Heilen was gar nicht krank ist…) Ich darf mich bewusst als andersartig inszenieren, am besten die anderen zum Lachen bringen. Harmlos sein. Oder besser: harmlos erscheinen.
Wenn Du aber nun konform gehst, mit der Mehrheit, und weder exzentrisch noch ver-rückt sein willst? Wie kann ich Dich dann Künstler nennen? Nun, ganz einfach:
- “Anstaunen ist auch eine Kunst. Es gehört etwas dazu, Großes als groß zu begreifen.” – Theodor Fontane, Der Stechlin
Wenn also Kunst Dich berührt, Du Dich von Künstlern bewegen und vielleicht sogar verändern lässt, dann bist Du auch eine Künstlernatur.
Und wenn Dir das nun nicht mehr reicht, dann empfehle ich Dir die weisen Worte eines Mannes, über dessen Kunst man sich streiten kann (vielleicht muss?), der mir hier (Stichworte: „erweiterter Kunstbegriff“ und „Soziale Plastik“, hochinteressantes Thema) aber aus der Seele spricht :
„Jeder Mensch ist ein Künstler.“ – Joseph Beuys
Herzlichst, wo immer Du gerade bist,
P.S.: Weiter in diese Richtung geht es mit dem wöchentlichen Künstlertreff oder zumindest dem gelegentlichen Tee mit der Muse… oder wie lebst Du Dein Künstlersein? Verrat es mir im Kommentar….bittebitte
P.P.S.: Ja, das Bild oben ist ein Bild von mir, es heisst „Rose-tint my world“, Acryl auf Holz, 2016.
Hallo Johanna,
Danke für das super Thema!
Viele hilfreiche Worte, Zitate und ein wunderschönes Bild…
Bis bald wieder und alles liebe,
Nicole
Danke Dir! :-*