Draußen ist es heute neblig. Schon das Wetter ist Futter für unsere Sinnlichkeit: feucht und grauweiß täuscht der Nebel unser Gehör und frustriert unseren Sehsinn. Gestern schien zum ersten Mal in diesem Jahr die Sonne in mein Arbeitszimmer –
ich habe es mit allen Sinnen genossen.
Wir reden viel zu wenig über Sinnlichkeit, höchstens im Zusammenhang mit unserer Sexualität. Aber nicht im Zusammenhang mit unserem Arbeitsumfeld oder ganz alltäglichen Situationen. Vollkommen unverständlich in einer Welt, in der sogar das Geräusch optimiert wird, das eine Autotür beim Schließen macht! Wir sind sinnlicher Manipulation jederzeit und überall ausgeliefert, von der Musikberieselung im Aufzug bis zur Haptik unseres Laptops.
Aber wir machen uns viel zu wenig Gedanken über unsere Sinnlichkeit.
Unsere kleinen Katzen wühlen sich ständig in Decken hinein, versuchen unter Teppiche zu kriechen oder in Schubladen zu springen. Auf dem Sofa mutieren sie zu Maulwürfen, immer auf der Suche nach Geborgenheit. Nicht zum ersten Mal wünsche ich mir, eine Gestaltwandlerin zu sein und es ihnen gleich tun zu können in der sinnlichen Erforschung der Welt. Das ist mehr als nur der Nebel oder die Kälte. Es ist auch mehr als der Wunsch nach Winterruhe. Es ist der Wunsch nach Sinnlichkeit.
Ich habe das Bedürfnis, meinen Sinnen ein Fest zu bieten.
- warme und weiche Stoffe auf meiner Haut
- angenehme Berührungen
- warmes Sonnenlicht
- duftende Seife
- wohlschmeckender Tee für Nase und Gaumen
- unerwartete Gewürzkombinationen in der Küche
- knackiges frisches Gemüse
- eine Kerze auf dem Esstisch
- kühler Schmuck auf der Haut
- ein weiches Bett
- ein Besuch im Museum: ein Bankett für die Augen
- unter meinen Händen schönes entstehen sehen
- eine wunderschöne Blume auf dem Schreibtisch
- Musik … Altvertraute und neue, frische Reize für die Ohren
- alle Sinne einbeziehender Sex
- Arbeitsmaterialien, die angenehm in den Händen liegen: die Computermaus ebenso wie das Notizbuch für die Tasche
- ein Klangspiel an der Treppe
- ein Lammfell im Bürostuhl
- ein angenehmer Wecker
- angemessene Beleuchtung, angenehm für die Augen und Ohren
- …
Es geht mir beileibe nicht darum, den ganzen Tag auf dem Sofa zu sitzen, und mit leckerem Essen und wunderbaren Getränken versorgt zu werden, während die Katzen auf meinem Schoß kuscheln. (Obwohl das ein verlockender Plan für den nächsten freien Tag ist…)
ich möchte meinen Sinnen im ganz normalen Alltag gerecht werden.
Zu Sinnlichkeit gehört Ordnung, Harmonie und auch Schönheit, Ruhe genauso, wie angenehme Geräuschkulissen. Es tut gut, sich selbst als Gesamtsystem zu sehen, nicht nur als Arbeitsmaschine. So wie eine Maschine Öl, Graphitstaub, Sauberkeit oder Wasserdampf benötigt um „rund zu laufen“, so benötigt ein Mensch eben mehr als nur die Befriedigung der Grundbedürfnisse, um zu Höchstform aufzulaufen. Menschen sind sinnliche Wesen.
Meiner Sinnlichkeit Rechnung zu tragen, meinen Sinnen angenehme Eindrücke zu geben, ohne sie zu überreizen, macht ablenkungsfreies Arbeiten erst möglich.
Während also die alltäglichen Aufgaben bewältigt werden wollen, darf ich Kleidung tragen, die meiner Haut gefällt und gut sitzt. Während ich Seifen und Putzmittel benutze, darf ich meiner Nase sowie meiner Haut etwas Gutes tun. Während ich meinen Hunger stille darf ich meine Geschmacksnerven herausfordern oder streicheln, je nachdem. Während ich am Computer sitze darf mein Körper eine angenehme Haltung haben, angenehme Temperatur und positive haptische Eindrücke. Mein Wasser aus einem schönen Glas zu genießen statt aus einem Plastikbecher fällt in die gleiche Kategorie.
Auf dieser sinnlichen Ebene an mich selbst zu denken, mindert nicht meine Produktionsfähigkeit, im Gegenteil: es macht mich leistungsfähiger und resilienter!
Daher dürfen wir meiner Meinung nach alle etwas mehr an uns selbst denken, während wir alle die Dinge tun, die unserer Rolle in unserer Gemeinschaft entsprechen.
Genauso kann es für das Arbeitsklima Wunder wirken, sich einmal in einen anderen hinein zu versetzen, um seine Bedürfnisse besser zu verstehen. Ob man eine Türe schließt, ein Glas Wasser mitbringt, oder jemandem ein Kissen reicht – all diese scheinbar kleinen Gesten machen mehr mit ihrem Empfänger als uns oft bewusst ist.
Probiere es doch einmal aus: tu etwas für einen Kollegen, was seinen Sinnen gut tut.
(Damit meine ich keine Rückenmassage. Wobei auch diese, je nach Situation, genau das sein kann, was für effektive Arbeit nötig ist.) Die eigene Sinnlichkeit wie die der anderen zu beachten, wie jedes andere Bedürfnis, macht unser Leben zu einer angenehmeren Erfahrung. Wenn Du einmal ehrlich bist, hast Du sicher schon einmal eine Art Selbstbestrafung durchgeführt, in dem Du Dich auf den unbequemeren Stuhl gesetzt hast, die zu enge Jeans getragen oder das zu scharfe oder zu langweilige Essen gegessen hast. Du weißt sicher, welche Situationen ich meine. Zum Glück wissen wir inzwischen nicht nur aus der Verhaltensforschung, dass Belohnungen besser funktionieren als Bestrafungen.
Deshalb werde ich mir nach Veröffentlichung dieses Blogbeitrages einen wunderbaren Tee und einen würzigen Keks gönnen…
Herzlichst, wo auch immer Du gerade bist,
Tausend Dank, liebe Johanna!
Du hast mir, wie so oft, “aus der Seele geschrieben”!
Und – passend zum Thema – bin ich beim Antworten dankbar, dass der Blick von meinem Schreibplatz auf dem beruhigenden Grün und den wuchernden Formen und leuchtenden Blütenfarben meines sommerlichen Gartens ausruhen darf.
Ich rede in gewissen Situationen meistens von meinem großen Bedürfnis nach optischer Harmonie und Schönheit – vor allem bei den Mahlzeiten. Und habe viel zu oft ertragen, wenn aus Bequemlichkeit Kochtöpfe auf den Tisch kamen, oder eine von Freunden mitgebrachte Pizza oder Empanadas in der Pappschachtel oder dem Transportpapier… und wenn alle meinten, es wäre doch besser so und bliebe länger warm, um des „lieben Friedens willen“ mich am Esstisch unwohl gefühlt. Aber ich habe gelernt: Seit einer Weile kommt alles in Schüsseln oder auf Platten auf den Tisch… wofür habe ich schließlich schönes Geschirr?! So kommen auch übrig gebliebene Einzelstücke wieder zur Geltung, kleine Vasen, Kerzen, Servietten statt Küchenpapier… und an den Hühnersalat lieber blaue Trauben statt grüne: beim Essen fällt mir am meisten auf, wenn nicht nach Möglichkeit alle meine Sinne gestreichelt werden… Auch passende Beleuchtung und Akustik sind wichtig… nicht als Luxus, sondern zum notwendigen auch physischen Wohlbefinden!
Aber natürlich hast du Recht, und unser Bedürfnis nach befriedigter Sinnlichkeit will in fast jeder Lebenssituation gestillt werden – zuvörderst in unserer Wohnung und am Arbeitsplatz….
Wobei mir als Augentier an erster Stelle Ordnung wichtig ist und die damit einhergehenden Schönheit und Harmonie – auch der Farben und Formen…
Ich könnte jetzt fast alles aus deinem Text wiederholen – so sehr empfinde ich es ähnlich – und dass ich zur Zeit keine Katze zum Streicheln und Kuscheln habe, ist eine gefühlte Lücke, die über den Schmerz des Abschieds von meinem Kater hinausgeht…
Ich wünsche dir und allen viele Feste für unsere Sinne!
Danke für Deinen Kommentar, Friede!
Sehr viele Anregungen darin… Schön!
Ich wünsche Dir felltragenden Besuch, der sich kuscheln lässt!
Ganz herzlich,
Johanna
In Bezug auf meine Sinne habe ich meine Art noch nie gesehen. Danke für diesen Gedankengang.
Wie schön, dass ich Dich „anschubsen“ konnte, Birgit…
Herzlichst, Johanna