Kennst Du spät erkannte Hochbegabte? Vielleicht bist Du auch spät erkannt? Vielleicht bist Du in einer Zeit geboren worden, in der das Thema Hochbegabung einfach noch keines war, weder in der Schule noch irgendwo sonst. Vielleicht kommst Du auch aus einer Familie, in der das Thema keines war, und bist auch sonst in der Kindheit und Schulzeit nicht darauf gestoßen. Vielleicht weil Du aus einer „bildungsfernen“ Familie stammst, in der Du das „seltsame“ Kind warst, oder aber aus einer Akademikerfamilie, in der Du gar nicht weiter aufgefallen bist. Dann bist Du vielleicht erst draußen in der Welt die „seltsame“ Person gewesen. Also gehörst Du nicht zu den Menschen, bei denen bereits in der Kindheit ein Verdacht bestand, sie könnten hochbegabt sein, und die daraufhin getestet, besonders gefördert und gefordert wurden, und im Bewusstsein ihrer Hochbegabung aufwuchsen. So oder so ist bist Du Deiner Hochbegabung vielleicht erst als Erwachsene bewusst geworden. Ob mit 20 oder mit 60 ist dabei erst einmal nicht relevant:
Was genau „Spät erkannt“ heißt, entscheidest letzten Endes Du selbst.
Ein unbedarfter Beobachter könnte nun folgern, dass Du nach der Erkenntnis Deiner Hochbegabung nun entspannt und glücklich weiterleben kannst, vielleicht mit ein paar zusätzlichen Ideen oder einem anderen Job, aber doch sicher zufrieden. Leider sieht die Realität oft anders aus. Bevor Du Dich mit der Hochbegabung befasst hast, oder einen Test mitgemacht hast, gab es da diesen Verdacht. Den Verdacht, Dein immer gefühltes Anderssein, Deine „Seltsamkeit“ könnte etwas mit Deiner Intelligenz zu tun haben. Du hast Dich mit dem Thema beschäftigt, warst neugierig und gleichzeitig aufgeregt:
„Kann das sein, ich? Ich und hochbegabt?“
In irgendeiner Deiner Hirnwindungen keimte die Hoffnung, mit der Lösung dieser einen Frage könnten alle die anderen Fragen sich auch klären:
- warum habe ich mich immer so anders gefühlt?
- warum verstehe ich die anderen nicht?
- warum hat mich nie jemand wirklich verstanden?
- warum hatten alle eine/n beste/n Freund/in, nur ich nicht?
- warum bin ich allein?
- warum habe ich solche Probleme mit meinem Chef?
- warum schlittere ich in den Bore-Out?
- warum halte ich es in keinem Job länger aus?
- warum habe ich immer wieder depressive Episoden?
- warum interessiere ich mich nicht für das, was alle anderen interessiert? Und umgekehrt?
- warum hatte ich solche Probleme in der Schule?
- warum langweilt mich das „normale“ Leben so sehr?
- warum kann ich keinen Small-Talk?
- … Dir fällt sicher noch etwas ein.
Dann hattest Du die Antwort: ja, ich bin hochbegabt. Deshalb! Aber statt der erhofften Erleichterung brach erst einmal das Chaos in Dir aus:
„Oh nein, ich bin hochbegabt! Und jetzt???“
Zuerst machte sich Verwirrung in Dir breit: was soll das eigentlich genau heißen, ich sei hochbegabt? In wie fern? Und Du beginnst alles zu durchleuchten, Dein Leben, jede Begegnung, jede Entscheidung. Es gibt Tage der Wut über erlebte Ungerechtigkeiten, Tage der Trauer über verpasste Gelegenheiten und mangelnde Chancen, Tage der Resignation und auch Tage der Euphorie. Ein Wechselbad der Gefühle, alle ausgelöst von dieser einen Aussage. Das kennen wir alle! Ich war auch verwirrt, habe gezweifelt („Was war das für ein Testverfahren? Wie ist das überhaupt zu interpretieren?“), gewütet und geweint. Und bin mit meinem neuen Lieblingsthema allen gehörig auf die Nerven gegangen. Vollkommen normal.
Dann kommt ein Tag, an dem ist es einfach so: vielleicht spät erkannt, aber doch schon immer hochbegabt.
Das ist dann ein bisschen langweilig, geradezu enttäuschend. Denn an sich hat sich in Deinem Leben ja nichts geändert. Und auch Du hast Dich nicht verändert, oder doch?
Ich denke doch, denn Selbsterkenntnis verändert uns immer.
Im fünften Jahrhundert wurden die Worte „Gnothi seauton“ (d.h. „Erkenne Dich selbst“) im Apollontempel in Delphi eingraviert. Ratsuchende wie Du, Menschen, die mit ihrem Leben, ihren Mitmenschen oder sich selbst Probleme haben, gingen damals in die Tempel, heute zur Beratungsstelle, zum Arzt, zum Geistlichen, zum Coach, zur Gesprächsrunde. Letzen Endes geht es um das Gespräch mit Außenstehenden, die einen frischen, objektiven Blick auf Deine Probleme und im besten Fall auch entsprechende Lebenserfahrung mitbringen. Sie werden Dir zuhören, Dir Fragen stellen, Dir die eine oder andere Geschichte erzählen, und Dir so helfen, Dich selbst und Deine Probleme besser einzuordnen. Dich selbst zu erkennen, als einen Menschen mit einem bestimmten Problem: Als eine Mutter ohne Zeit. Einen Alleinverdiener vor dem Burnout. Einen Künstler in lähmendem Brotberuf. Eine ruhelose Poetin.
Oder eben eine spät erkannte Hochbegabte, die beginnt, sich selbst zu erkennen.
Indem Du Dich immer besser kennenlernst, bist Du auch immer besser dazu in der Lage, Dein Leben Deiner Persönlichkeit und Deinen Bedürfnissen anzupassen. Wenn wir beispielsweise erkannt haben, dass uns Zeit für etwas bestimmtes fehlt, dann können wir sie uns besser erkämpfen. Wir können uns erst dann voll entfalten, wenn wir überhaupt wissen, wer wir sind. Wenn wir uns versöhnen mit allem, was wir sind. Wenn wir uns und unsere Hochbegabung akzeptieren – egal ob früh oder spät erkannt.
Spätestens im Rückblick werden wir unsere Handlungen verstehen, und aus unseren Fehlern und Irrtümern für unsere Zukunft lernen. Und wenn wir unser Leben immer mehr an unser Selbst anpassen, dann werden wir es auch immer mehr geniessen! Was uns entspricht gibt uns Kraft: der Gipfelstürmer ist in den Alpen sicher glücklicher als an der Küste, während die Muschelsucherin jeden Sommer ans Meer fährt, um sich in ihrer Haut wohl zu fühlen. Der eine Hochbegabte liest eben lieber ein interessantes Buch, während der andere liebend gern auf Konzerte geht. Denn die Hochbegabung ist ja nur ein einziges Persönlichkeitsmerkmal von vielen…
Selbsterkenntnis hilft, das Leben mehr zu geniessen, auch wenn Du kein Teenager mehr bist!
Es ist in meinen Augen für Menschen ein Ding der Unmöglichkeit, als Teenager den richtigen beruflichen Weg einzuschlagen. Die wenigsten Menschen sind in diesem Alter schon so ihrer Stärken und Schwächen bewusst, dass sie ihre Zukunft klar planen können, egal ob normalbegabt oder hochbegabt. Ausbildungswechsel, Studienfachwechsel und Quereinstiege sind die logische Folge. Aber das ist durchaus nichts Schlechtes! Alle Umwege und Irrwege zeigen uns ein immer klareres Bild von uns selbst; wir gewinnen Selbsterkenntnis. Und diese, das wusste schon meine liebe Großmama, ist nun mal der erste Schritt zur Besserung… lass los, was nicht Deins ist, finde Dein Rudel und wähle immer den authentischeren Weg…. Und dann, wenn Du merkst wie gut Dein Leben Dir passt, dann kannst Du es in vollen Zügen geniessen!
Ich wünsche Dir ein buntes Leben voller interessanter Umwege, auf dass Du Deinen individuellen Weg immer klarer und deutlicher sehen mögest!
Herzlichst, wo immer Du gerade bist,
P.S.: Hier noch ein Artikel über das Schlimmste an der unerkannten Hochbegabung!
Echt mal wieder gelungen. Genau mein Thema eben. Bin getröstet – Danke, liebe Johanna!
Liebe Stephanie: bitte, gern geschehen!