Heute traf ich zufällig eine Frau, die noch im letzten Semester gemeinsam mit mir in einem Französischkurs saß. Der Kurs fiel leider dieses Semester mangels Beteiligung aus. Sie sagte: „Der Kurs lohnt sich gar nicht für mich. Die Hausaufgaben mache ich immer nur kurz 5 Minuten vor dem Kurs, so wie damals in der Schule. Ich tue viel zu wenig dafür.“ Meine Antwort auf diese Aussage war: „Ja, Du kommst gut mit, und in der Schule hat das auch funktioniert. Ist doch prima! Was beim Französisch Kurs wichtiger ist als mühevolle Leistungen, ist die kontinuierliche Beschäftigung mit der Sprache. Dafür reicht es völlig, wenn wir einmal die Woche dort sind.“ Wir haben unseren darauf geeinigt, dass wir versuchen einen neuen Kurs zu organisieren. Aber die Begegnung hat mich nachdenklich gemacht. Viele Hochbegabte zeigen dieses Reaktionsmuster.
Warum sind wir so darauf geeicht, unsere Leistungen nur dann zu würdigen, wenn sie mit Mühe oder Schmerzen erreicht wurden?
Wir wissen längst, dass spielerisches Lernen effektiv ist, und dass Freude während des Lernens dazu führt, dass das Gelernte besser gespeichert wird. (Lernmethoden sind ein spannendes Thema!) Stoff interessant zu vermitteln, die Schüler neugierig zu machen und ihre Wissbegierde zu wecken sind die Hauptherausforderungen für Lehrer. Sind die guten Noten, die Schüler daraufhin schreiben, weniger wert, als gute Noten früher, zu Zeiten des autoritären Frontalunterrichts? Soweit würde wohl keiner gehen. Genauso wenig, wie man ein hochbegabtes Kind mit großer Neugier daran hindern möchte, den Schulstoff aufzusaugen wie ein Schwamm, und mit wenig Aufwand ganz entspannt durch die Schule zu kommen. (Ja, es gibt auch Underachiever, das ist ein anderes Thema.) Dass dieses Kind nicht „lernen gelernt“ hat, wird spätestens dann zum Problem, wenn auch Uninteressantes gelernt werden muss. Im Sportunterricht gab es immer Notenpunkte dafür, dass auch unsportliche Schüler sich bemüht haben. Da wurde ganz gezielt die Anstrengung honoriert, sich mit etwas zu beschäftigen, für das man kein Talent hat.*
Das mag in manchen Situationen sinnvoll sein, sollte aber nicht dazu führen, dass die Leistungen, die besondere Anstrengungen erfordert haben, von vornherein als größer betrachtet werden, als jene, die einem leicht fielen.
Sind die sportlichen Leistungen bei einer Olympiade weniger wert, wenn die Sportler aus ihrem Talent und ihrer Freude an Bewegung heraus angetreten sind? Ist die treffende Zeichnung, die dem begabten und geübten Zeichner leicht fällt, weniger wert, als die erkennbare Zeichnung des Vierjährigen? Ist der wunderbare 45. Roman eines Autors weniger wert als der brillante Erstling? Natürlich nicht! Da mag sich für das hochbegabte Schulkind das „Befriedigend“ im uninteressanten Fach nach einer größeren Leistung anfühlen, als das „Sehr gut“ im Lieblingsfach Englisch. Dennoch bleibt der englische Aufsatz eine sehr gute Leistung, die auch gewürdigt werden darf. Durchhaltevermögen ist etwas anderes als Leistung. Wir wissen ja alle, dass es falsch ist, Äpfel mit Birnen zu vergleichen.
Die Leistungen anderer zu betrachten ist einfach: wir sehen Gelungenes, und loben es.
Wir loben vielleicht ein wenig mehr, wenn wir wissen, dass diese Leistung hart erkämpft wurde. Aber wir würden niemals zu unserem talentierten Freund sagen, dass seine Leistung an seinem Talent gemessen ja gar nicht so herausragend sei. Unabhängig davon, ob es hier um eine Doktorarbeit, ein Ölgemälde, einen Kuchen oder eine Veröffentlichung geht. (Vielleicht gibt es Fälle, in denen wir jemanden wieder auf den Boden der Tatsachen zurückholen möchten. Da ist so eine Bemerkung eventuell angemessen.) Oft sehen wir bei den Leistungen anderer ja gar nicht, wie viel Anstrengungen dafür nötig waren – also würdigen wir die Leistung an sich. Wenn wir unsere eigenen Leistungen betrachten, dann scheinen wir aber immer unsere Anstrengungen mit ein zu berechnen.
Fällt uns etwas sehr leicht, messen wir ihm nicht so viel Wert zu.
Die Zeichnung aus dem Handgelenk, das 80. Paar Socken, der 100. Gugelhupf, das 101. Gedicht, unsere Singstimme oder irgend ein anderes Talent – uns selbst fällt es immer am schwersten, unsere eigenen Leistungen zu würdigen.
Deshalb sollten wir das üben: ein Kompliment mit einem „Dankeschön!“ anzunehmen, ein Lob zu akzeptieren, Bewunderung für unser Werk stehen zu lassen … Wir sollten üben, unsere Leistungen nicht klein zu reden. Wie übst Du, Deine Leistungen so zu sehen, wie ein anderer sie sieht? Indem Du den anderen zuhörst. Versuche folgendes zu tun:
- Das Lob für den Kuchen anzunehmen, ohne darauf hinzuweisen dass Du ihn seit 20 Jahren jedes Wochenende backst.
- Das Lob für die Rede anzunehmen, ohne dazu zu sagen, dass Dir das schon immer leicht fiel.
- Das Lob für die 3 in Mathe genauso annehmen, wie das Lob für die 1 in Englisch.
- Das Lob für Deine Aussprache einer Fremdsprache annehmen, Dich dafür bedanken, ohne die Erklärung hinzuzufügen, dass Du schon als kleines Kind immer im entsprechenden Land Urlaub gemacht hast.
- Das Lob für Deine Zeichnung zu akzeptieren, ohne zu sagen „Ich habe auch viel geübt.“
- Das Lob für den Sprint einfach annehmen.
- Das Lob für den Projektplan einfach annehmen.
- Das Lob für die Geschenkverpackung einfach annehmen.
- Das Lob für den klugen Rat einfach annehmen.
- Das Lob für die Pünktlichkeit einfach annehmen.
- Das Lob für das passende Geschenk einfach annehmen.
- Das Lob für die Doktorarbeit einfach annehmen.
- Das Lob für den perfekten Wurf einfach annehmen.
Üben wir das, dann wird es mit der Zeit einfacher werden, unsere eigenen Leistungen zu würdigen, unabhängig vom Aufwand, den wir für sie betrieben haben.
Dann können wir auf unsere Leistungen auch stolz sein, selbst wenn sie uns scheinbar in den Schoß gefallen sind. (Mehr dazu hier: Stolz und Demut.) Dann können wir vielleicht auch ganz entspannt sehen, dass wir für den Französisch Kurs nicht viel tun müssen, und trotzdem vorankommen. Ohne uns dafür schlecht zu fühlen, den Kurs in Frage zu stellen, oder zu glauben, uns dafür entschuldigen zu müssen.
Herzlichst, wo immer Du gerade bist,
*Für vielbegabte Schüler ist das ein sehr vertrautes Szenario: überall gut durchkommen, ausser dort, wo es einfach uninteressant ist. Wie gut, dass man bei der Berufswahl seinen Neigungen folgen darf!
P.S.: Ich benutze den Begriff Leistung hier im umgangssprachlichen Sinne von Errungenschaft, Erreichtes, Geleistetes, Ergebnis, nicht im psychologischen (nur mit Mühe Errungenes ist eine Leistung) oder physikalischen (mehr in kürzerer Zeit schaffen =mehr Leistung). Es ist aber interessant, auch diese Definitionen im Hinblick auf Hochbegabung oder Hochintelligenz zu durchdenken.
P.P.S.: Nicht das Gewinnspiel vergessen!!! Das Bunte Blog ist 5 geworden und Du kannst ein Coaching gewinnen!
Heute traf ich zufällig eine Frau, die noch im letzten Semester gemeinsam mit mir in einem Französischkurs saß. Der Kurs fiel leider dieses Semester mangels Beteiligung aus. Sie sagte: „Der Kurs lohnt sich gar nicht für mich. Die Hausaufgaben mache ich immer nur kurz 5 Minuten vor dem Kurs, so wie damals in der Schule. Ich tue viel zu wenig dafür.“ Meine Antwort auf diese Aussage war: „Ja, Du kommst gut mit, und in der Schule hat das auch funktioniert. Ist doch prima! Was beim Französisch Kurs wichtiger ist als mühevolle Leistungen, ist die kontinuierliche Beschäftigung mit der Sprache. Dafür reicht es völlig, wenn wir einmal die Woche dort sind.“ Wir haben unseren darauf geeinigt, dass wir versuchen einen neuen Kurs zu organisieren. Aber die Begegnung hat mich nachdenklich gemacht. Viele Hochbegabte zeigen dieses Reaktionsmuster.
Warum sind wir so darauf geeicht, unsere Leistungen nur dann zu würdigen, wenn sie mit Mühe oder Schmerzen erreicht wurden?
Wir wissen längst, dass spielerisches Lernen effektiv ist, und dass Freude während des Lernens dazu führt, dass das Gelernte besser gespeichert wird. (Lernmethoden sind ein spannendes Thema!) Stoff interessant zu vermitteln, die Schüler neugierig zu machen und ihre Wissbegierde zu wecken sind die Hauptherausforderungen für Lehrer. Sind die guten Noten, die Schüler daraufhin schreiben, weniger wert, als gute Noten früher, zu Zeiten des autoritären Frontalunterrichts? Soweit würde wohl keiner gehen. Genauso wenig, wie man ein hochbegabtes Kind mit großer Neugier daran hindern möchte, den Schulstoff aufzusaugen wie ein Schwamm, und mit wenig Aufwand ganz entspannt durch die Schule zu kommen. (Ja, es gibt auch Underachiever, das ist ein anderes Thema.) Dass dieses Kind nicht „lernen gelernt“ hat, wird spätestens dann zum Problem, wenn auch Uninteressantes gelernt werden muss. Im Sportunterricht gab es immer Notenpunkte dafür, dass auch unsportliche Schüler sich bemüht haben. Da wurde ganz gezielt die Anstrengung honoriert, sich mit etwas zu beschäftigen, für das man kein Talent hat.*
Das mag in manchen Situationen sinnvoll sein, sollte aber nicht dazu führen, dass die Leistungen, die besondere Anstrengungen erfordert haben, von vornherein als größer betrachtet werden, als jene, die einem leicht fielen.
Sind die sportlichen Leistungen bei einer Olympiade weniger wert, wenn die Sportler aus ihrem Talent und ihrer Freude an Bewegung heraus angetreten sind? Ist die treffende Zeichnung, die dem begabten und geübten Zeichner leicht fällt, weniger wert, als die erkennbare Zeichnung des Vierjährigen? Ist der wunderbare 45. Roman eines Autors weniger wert als der brillante Erstling? Natürlich nicht! Da mag sich für das hochbegabte Schulkind das „Befriedigend“ im uninteressanten Fach nach einer größeren Leistung anfühlen, als das „Sehr gut“ im Lieblingsfach Englisch. Dennoch bleibt der englische Aufsatz eine sehr gute Leistung, die auch gewürdigt werden darf. Durchhaltevermögen ist etwas anderes als Leistung. Wir wissen ja alle, dass es falsch ist, Äpfel mit Birnen zu vergleichen.
Die Leistungen anderer zu betrachten ist einfach: wir sehen Gelungenes, und loben es.
Wir loben vielleicht ein wenig mehr, wenn wir wissen, dass diese Leistung hart erkämpft wurde. Aber wir würden niemals zu unserem talentierten Freund sagen, dass seine Leistung an seinem Talent gemessen ja gar nicht so herausragend sei. Unabhängig davon, ob es hier um eine Doktorarbeit, ein Ölgemälde, einen Kuchen oder eine Veröffentlichung geht. (Vielleicht gibt es Fälle, in denen wir jemanden wieder auf den Boden der Tatsachen zurückholen möchten. Da ist so eine Bemerkung eventuell angemessen.) Oft sehen wir bei den Leistungen anderer ja gar nicht, wie viel Anstrengungen dafür nötig waren – also würdigen wir die Leistung an sich. Wenn wir unsere eigenen Leistungen betrachten, dann scheinen wir aber immer unsere Anstrengungen mit ein zu berechnen.
Fällt uns etwas sehr leicht, messen wir ihm nicht so viel Wert zu.
Die Zeichnung aus dem Handgelenk, das 80. Paar Socken, der 100. Gugelhupf, das 101. Gedicht, unsere Singstimme oder irgend ein anderes Talent – uns selbst fällt es immer am schwersten, unsere eigenen Leistungen zu würdigen.
Deshalb sollten wir das üben: ein Kompliment mit einem „Dankeschön!“ anzunehmen, ein Lob zu akzeptieren, Bewunderung für unser Werk stehen zu lassen … Wir sollten üben, unsere Leistungen nicht klein zu reden. Wie übst Du, Deine Leistungen so zu sehen, wie ein anderer sie sieht? Indem Du den anderen zuhörst. Versuche folgendes zu tun:
Üben wir das, dann wird es mit der Zeit einfacher werden, unsere eigenen Leistungen zu würdigen, unabhängig vom Aufwand, den wir für sie betrieben haben.
Dann können wir auf unsere Leistungen auch stolz sein, selbst wenn sie uns scheinbar in den Schoß gefallen sind. (Mehr dazu hier: Stolz und Demut.) Dann können wir vielleicht auch ganz entspannt sehen, dass wir für den Französisch Kurs nicht viel tun müssen, und trotzdem vorankommen. Ohne uns dafür schlecht zu fühlen, den Kurs in Frage zu stellen, oder zu glauben, uns dafür entschuldigen zu müssen.
Herzlichst, wo immer Du gerade bist,
*Für vielbegabte Schüler ist das ein sehr vertrautes Szenario: überall gut durchkommen, ausser dort, wo es einfach uninteressant ist. Wie gut, dass man bei der Berufswahl seinen Neigungen folgen darf!
P.S.: Ich benutze den Begriff Leistung hier im umgangssprachlichen Sinne von Errungenschaft, Erreichtes, Geleistetes, Ergebnis, nicht im psychologischen (nur mit Mühe Errungenes ist eine Leistung) oder physikalischen (mehr in kürzerer Zeit schaffen =mehr Leistung). Es ist aber interessant, auch diese Definitionen im Hinblick auf Hochbegabung oder Hochintelligenz zu durchdenken.
P.P.S.: Nicht das Gewinnspiel vergessen!!! Das Bunte Blog ist 5 geworden und Du kannst ein Coaching gewinnen!