Hochbegabung

Kinder sind schon Leute

Kinder sind Leute. Zeichnung eines Kindes im Gras, das dem Betrachter gerade in die Augen schaut. ©Johanna Ringe 2018 . www.dein-buntes-leben.de

Kinder und verbale Kommunikation, das ist ein vielschichtiges Thema. Ich kenne einen Mann, höchstbegabt, der eine spezielle Stimme hat, wann immer er mit Kindern spricht. Die hatte er schon, wenn er mit unseren Kindern gesprochen hat als sie klein waren, und die hat er immer noch, wenn er mit seinem Sohn spricht, der inzwischen 18 ist. Meine Töchter haben sich mit 15/16 darüber sehr aufgeregt, meiner Meinung nach vollkommen zu Recht. Man kann mit einem 18-jährigen nicht so sprechen, wie mit einem fünfjährigen Jungen. Nun, man kann schon, man sollte aber nicht. Kinder werden nämlich älter, größer, erwachsener und vernünftiger – und das sollte sich im Umgang mit ihnen niederschlagen.

Nein, Kinder sind nicht mit einem Schlag erwachsen.

Es gibt nicht den einen Moment, in dem aus einem Kind ein Erwachsener wird. Selbst wenn das Gesetz definiert, dass dies am 18. bzw. 21. Geburtstag der Fall wäre, sieht die Realität doch etwas anders aus. Wir kennen vermutlich alle jemanden, der schon sehr viel älter ist als 18 Jahre, und dennoch immer noch nicht reif und erwachsen. Genauso dürfte jeder, der mit hochbegabten Kindern schon einmal zu tun hatte, sich darüber im Klaren sein, dass für hochbegabte Menschen offenbar da andere Regeln gelten. Der viel zitierten Diskrepanz zwischen emotionaler und kognitiver Entwicklung zum Trotz, wollen und sollen hochbegabte Menschen wesentlich früher für voll genommen werden, als andere. Da die kognitive Entwicklung beim hochbegabten Kind der eines Durchschnittskindes oft um Jahre voraus ist, leidet es in der Schule oft nicht nur unter Langeweile, sondern empfindet manche Situationen mit Erwachsenen als demütigend. (Wenn die emotionale Entwicklung sehr hinterherhinkt, macht die entsprechende Verletztheit es dem Erwachsenen schwer, den hochentwickelten Intellekt hinter der Trotzreaktion zu erkennen.)

Hochbegabte Kinder sind intellektuell früher erwachsen als andere.

Dass ein Verstand, der sich bereits mit Wahrscheinlichkeitsrechnung beschäftigt, beleidigt ist, wenn der sich mit dem kleinen Einmaleins befassen soll, ist offensichtlich. Dass ein Mensch, der sehr viel reflektierter durchs Leben geht als sein Alter es vermuten lässt, manche Verhaltensvorträge und manche Ansprache als beleidigend empfindet, ist offenbar schwerer nachzuvollziehen. Am allerschwersten nachzuvollziehen ist dies erstaunlicherweise für manche hochbegabten Erwachsenen wie den oben erwähnten Bekannten. Bei ihnen scheint die Erinnerung daran, wie sie sich selbst als Kind gefühlt haben, nicht so präsent zu sein, wie die immer wieder gemachte Erfahrung, der intelligenteste Mensch weit und breit zu sein. Diese Menschen tendieren dazu, selbst mit anderen Erwachsenen, die nicht offensichtlich in derselben intellektuellen Liga spielen, freundlich und nachsichtig zu sprechen wie mit einem Kind. Es ist ihnen dabei keinesfalls bewusst, wie demütigend das in dem Moment wirkt, wenn es durchschaut wird. Es scheint der einzige Weg zu sein, den sie gefunden haben, arglos und in bester Absicht. (Diese Menschen gewöhnen sich oft als Kinder schon an, mit den sie umgebenden Erwachsenen, die ihnen intellektuell einfach nicht gewachsen sind, entsprechend vorsichtig, langsam und freundlich oder aber offen herablassend zu sprechen. „Schau mal, Opa, es ist doch so …“) Allerspätestens in der Begegnung mit hochbegabten Kindern gibt das Reibung!

Viele Hochbegabte erinnern sich sehr genau an ihre Schulzeit.

Sie erinnern sich daran, wie schnell sie vieles verstanden haben. Wie viel sie gelesen haben, und aufnehmen konnten. Wie klar sie das Verhalten anderer Menschen durchschauen konnten. Als wie demütigend sie es empfanden, mit anderen Kindern über einen Kamm geschoren zu werden, obwohl sie eine tiefe Kluft zwischen sich selbst und diesen anderen Kindern erlebten. Wie herrlich es war, von einem Erwachsenen für voll genommen zu werden, und einfach über ein gemeinsames Thema sprechen zu können – diese Situation gehört für viele zu den eindrucksvollsten Erinnerungen.

Und gerade, weil sie sich so genau erinnern, wie sie selbst sich in der Zeit gefühlt haben, sprechen diese Hochbegabten mit Kindern wie mit jedem anderen Menschen.

Das tut den Kindern unendlich gut, unabhängig davon, ob sie hochbegabt sind oder nicht. Selbstverständlich entspinnt sich ein anderes Gespräch zwischen zwei hochbegabten, gleich welchen Alters, als zwischen einem hochbegabten und einem normal begabten Menschen. Aber von dem Ansatz, man begegne sich auf Augenhöhe, profitiert jedes Gespräch, unabhängig davon, wie es sich dann entwickelt.
Ich habe unzählige Situationen erlebt, in denen Eltern fassungslos darüber waren, wie ruhig und vernünftig ihre Kinder sich benehmen konnten im Umgang mit mir. Das lag in erster Linie daran, dass ich diesen Kindern begegnete wie jedem anderen Menschen: respektvoll, offen und neugierig. Ich habe sie nicht bevormundet oder kommandiert, sondern ich habe sie gefragt und eingeladen. In manchen Fällen war ich der erste Erwachsene, der ihnen so begegnete, so dass sie verwirrt und überrumpelt aus ihren Verhaltensmustern herausfielen. In dieser neuen Situation mussten sie neues Verhalten an den Tag legen, völlig logisch und völlig überraschend für die Eltern. (Diese Kinder waren vollkommen unterschiedlich, teilweise normalbegabt, teilweise hochbegabt. Die Reaktion war ähnlich.)
Ich habe gelernt, kein Kind nach dem äußeren Eindruck einzuordnen. Unabhängig von Körpergröße und Stimmlage ist die innere Entwicklung jedes Menschen so individuell unterschiedlich, dass es mir völlig sinnlos erscheint, mir ein Reaktionsmuster á la „Ich spreche jetzt mit einem Kind.“ zuzulegen.
Wie man mit Kindern umgeht, prägt ihren zukünftigen Umgang mit anderen. Alle Menschen wünschen sich, dass man ihnen mit Respekt und Achtung begegnet. Dass man ihnen zuhört, ohne sie zu unterbrechen, dass man ihre Argumente durchdenkt, dass man freundlich bleibt auch wenn man nicht einer Meinung mit ihnen ist. Im Umgang mit jedem Kind sich nach Möglichkeit ganz genau so zu verhalten, ist der einfachste Weg die Welt nach den eigenen Vorstellungen zu gestalten. Oder nicht?

Im Umgang mit Hochbegabten jeden Alters gibt es noch ein paar Besonderheiten.

Einer der auffälligsten Wesenszüge von hochbegabten Kindern ist die Ablehnung jeder Form von Hierarchie gepaart mit einem weit überdurchschnittlichen Gerechtigkeitsempfinden. Konkret bedeutet das, dass der Direktor der Schule nicht respekteinflößender ist als andere Lehrer, und dass alle Lehrer sich durch ihr Verhalten den Respekt dieser hochbegabten Schüler erst verdienen müssen. Die Grundeinstellung jedes Hochbegabten ist: „Auch der Kaiser von China kocht nur mit Wasser!“ Das führt bereits zuhause und im Kindergarten zu Problemen, die sich in der Schule verschärfen, schon an der Uni manchmal eskalieren und am späteren Arbeitsplatz oft zu voller Blüte gelangen. Die explosive Kombination von einem offensichtlich sehr klugen Menschen, der nicht bereit ist, sich in seltsame Hierarchiespielchen verwickeln zu lassen, mit Menschen, die (oft ganz zu Recht) stolz auf ihren Status sind und sich gleichzeitig von diesem Intellekt bedroht fühlen, braucht oft Mediation von außen. Dem Umfeld klarzumachen, dass man sich nicht in einer Konkurrenzsituation sieht, und auf keinen Fall jemanden entmachten will, sondern gemeinsam nur die bestmögliche Arbeit leisten möchte, ist einerseits das Wichtigste, andererseits oft das Schwerste. Auf jeden Fall müssen Kollegen, Chef, Eltern, Lehrer, Verwandte und alle anderen Gesprächspartner sich den Respekt des Hochbegabten durch ihr Verhalten und Fakten erarbeiten.

In der Welt der Hochbegabten gibt es keine „naturgegebenen“ Hierarchien!

Den mühsam erarbeiteten Respekt verliert jeder wieder sehr schnell, wenn er sich ungerecht verhält. Das Gerechtigkeitsempfinden ist so stark ausgeprägt, dass bereits die als „Höflichkeit“ bezeichneten Floskeln oft als Lügen und Betrug gesehen werden. Das führt oft bereits zu den ersten großen Dramen mit dem hochbegabten Jugendlichen. Der Wunsch nach Gerechtigkeit ist so absolut, und erst Lebenserfahrung relativiert diesen Wunsch – bei den meisten Hochbegabten jedenfalls – so, dass sie begreifen, dass die dünne „zivilisatorische Tünche “ für das menschliche Zusammenleben in größeren Gemeinschaften notwendig ist. (Als Lüge empfinden sie das ganze trotzdem noch.)
Da die intellektuelle Entwicklung bei Hochbegabten deutlich schneller voranschreitet als die emotionale, reagieren hochbegabte Jugendliche oft sehr extrem. Bei aller Reflektiertheit haben sie ihre Emotionen oft noch nicht im Griff. Doch auch hierbei gibt es begabte Ausnahmen, die früh sehr kontrolliert rationale Diskussionen führen können, oft zur großen Irritation ihres Gegenübers.

Die Schärfe des eigenen Verstandes in den Griff zu bekommen ist eine wichtige Lernaufgabe.

Letzten Endes ist doch genau das ein Zeichen des Erwachsenseins: die eigenen Stärken wie die eigenen Schwächen zu kennen, die eigenen Reaktionen auf Emotionen regulieren zu können und die eigenen Fähigkeiten bewusst und kontrolliert einzusetzen. Auch wenn das eben bedeutet, den eigenen brillanten Verstand nicht immer und überall zu demonstrieren, oder zumindest nicht ohne Not als gefährliche Waffe einzusetzen. Viele Hochbegabte lernen früh, dass sie ihre Eloquenz als Waffe einsetzen können und damit immer am längeren Hebel sitzen. Sie gewöhnen sich daran, bis es eine unbewusste Strategie wird, die sofort greift, wenn sie sich verletzt fühlen. Das führt zu manch fruchtloser Diskussion anstelle klärender Gespräche, und in der Begegnung mit anderen Hochbegabten u.U. zu großer Verunsicherung, weil man sich hier auf diese Weise blitzschnell jeden Respekt verspielt. Eloquenz ist eine Waffe, ja, aber sie sollte bewusst und nur im Bedarfsfall eingesetzt werden, nicht reflexhaft. Solche Mechanismen bei sich selbst zu erkennen ist auch ein Teil des Erwachsenwerdens*.

So kennen wir sicher alle Leute jedweden Alters, die einfach nicht so sind, wie wir das heute in unserem kulturellen Kontext erwarten. Im Interesse der friedlichen Koexistenz sollten wir darüber allerdings hinwegsehen und auch mit ihnen offen, respektvoll und konstruktiv kommunizieren, genau wie mit allen Kindern, vollkommen unabhängig von IQ und Alter.

Denn auch Kinder sind eben schon Leute, und werden es nicht erst irgendwann mit einem Schlag!

Herzlichst, wo immer Du gerade bist,

Unterschrift Johanna (c) Johanna Ringe 2014 ff. www.dein-buntes-leben.de

*Erwachsen sein ist gar keine so eindeutig definierte Geschichte… kulturell und historisch gab und gibt es hierbei große Unterschiede. Und somit existiert auch hier wieder Raum für Missverständnisse und Kommunikationsprobleme.
P.S.: Lass mich bitte wissen, wo Du mich missverstehst, ich bin gespannt! ;-)