Selbstfürsorge als Wort klingt erst einmal konstruiert: die Fürsorge für sich selbst.
Dabei ist das etwas, dass wir alle lernen müssen. Naja, nicht alle: es gibt Menschen für die Selbstfürsorge instinktiv ein Teil ihres Lebens ist. Diese Menschen wissen, wann sie eine Pause brauchen. Sie wissen instinktiv, dass sie sich zuerst um sich selbst kümmern müssen, damit sie belastbar und leistungsfähig sind. Das sind Menschen die schon bei der Freizeitgestaltung klar sagen was sie wollen und es auch tun. Das sind Menschen die sich das leckerste Essen aus der Pfanne angeln, völlig ohne schlechtes Gewissen. Das sind Menschen, die sich schonen, wenn sie müde sind, die ihre eigenen Grenzen kennen, ihre Bedürfnisse achten und wissen, was sie wollen. Beneidenswert. Nicht wahr?
Die meisten Hochsensiblen hingegen sind so sehr mit ihrer Umgebung verwoben, dass sie gar nicht genau wissen, wo ihre Bedürfnisse liegen.
Sie haben oft kein gutes Gefühl dafür, wo sie selbst aufhören und wo die anderen anfangen. Aber sie sind Meister der Fürsorge: in Notsituationen kümmern sie sich zuerst um die anderen, gehen oft über ihre eigenen Grenzen und laugen sich langfristig aus, weil sie eben für alle, nur nicht für sich selbst sorgen. Die Selbstfürsorge Hochsensibler ist oft schwierig zu lernen und zu praktizieren.
Eine hochsensible Mutter gibt in der Regel den Kindern all ihre Energie und das beste Essen oft noch dazu. (Grob vereinfacht ausgedrückt, natürlich.) Das tut sie so lange, bis die Kinder ausgezogen sind, oder
Bis sie in irgendeiner Situation so ausgelaugt ist, dass sie Selbstfürsorge lernen muss – ob sie will oder nicht.
Anderes Beispiel: Ein hochsensibler Ehemann wird sehr viel Energie darauf verwenden, herauszufinden, was seine Frau denn wirklich will, statt „einfach sein Ding zu machen“. Da sein Gefühlsleben von dem seiner Frau abhängig ist, möchte er sie glücklich sehen, um selbst glücklich zu sein. Dieser Zusammenhang, dieses Verwoben-sein mag ihm nicht bewusst sein, und wenn er seine Frau liebt, will er sie sicher auch allein deshalb glücklich sehen, aber im Endeffekt stellt er die Fürsorge für seine Frau und Kinder über seine Selbstfürsorge. Auf lange Sicht wird das zum Problem.
Wir müssen uns um uns selbst kümmern. Wir selbst kennen unsere Bedürfnisse besser als jeder andere, und es ist unsere Verpflichtung, sie zu beachten.
Ob ich Durst habe kann nur ich selber wissen, und so muss ich mich mit Wasser versorgen. Ob ich Ruhe brauche, kann nur ich selber wissen, und deshalb muss ich sie mir nehmen. Die Familie kann ahnen, dass die stillende Mutter zweier Kinder sich erholen muss, und ihr das Kindergartenkind vom Leib halten, sicher. Aber letzten Endes muss die Mutter selbst lernen, Grenzen zu setzen. Der Partner darf seine eigenen Bedürfnisse nicht immer denen seiner Partnerin unterordnen. Die Situation muss ausgeglichen sein. Wenn sie sich einfach nur umkehrt, ist das keine Lösung.
Wenn zwei Menschen aufeinandertreffen, die beide zuerst an andere denken, mündet das oft in endlose Diskussionen:
- A: Was willst Du denn heute Abend unternehmen?
- B: Ach, mir ist alles recht.
- A: Nein, sag doch!
- B: Na, Du möchtest doch ins Kino!
- A: Ja aber möchtest Du auch ins Kino?
- B: Ich gehe gerne mit Dir.
- A: Das habe ich nicht gefragt. Ich will wissen was Du willst!
- B: Ich sag doch: mir ist alles recht!
- A: Dann gehen wir doch ins Theater, das magst Du doch.
- B: Aber Du willst doch ins Kino?!
- A: Aber Du ja anscheinend nicht…
- B: Was? Aber ich will gern mit Dir ins Kino!
- A: Dann sag das doch! Aber wir können auch ins Theater gehen…
- B: Ja, aber möchtest Du auch ins Theater?
- A: Ich gehe gerne mit Dir.
- B: Das hab ich aber nicht gefragt!
- …
Du kannst Dir sicher vorstellen, dass das noch stundenlang so weiter gehen kann, und des Öfteren in einen handfesten Streit münden wird. Womit man das vermeiden kann? Mit gesunder Selbstfürsorge Hochsensibler: damit, die eigenen Bedürfnisse klar zu äußern. Das ist noch keine Forderung, kein Egoismus, nichts Unanständiges:
Eigene Bedürfnisse und Wünsche zu äussern ist erst mal nur ein notwendiger Bestandteil gelingender Kommunikation.
Ob es um die Uhrzeit geht, zu der man ins Bett geht, oder um das Abendessen, um die Gestaltung einer Familienfeier oder eines Wochenendes, um ein Ferienziel oder die Pläne für die Goldene Hochzeit: wenn Du nicht für Deine eigenen Bedürfnisse einstehst indem Du sie äußerst, wirst Du Dich in allen Belangen fremdbestimmt wiederfinden. Manchmal ist das in Ordnung, manchmal ist es Dir sicher wirklich egal, aber auf Dauer wirst Du mit diesem Verhalten nicht glücklich. Wenn Dir Glück ein zu hochtrabendes Ziel erscheint, dann denk wenigstens an Deine Gesundheit: langfristig macht mangelnde Selbstfürsorge krank. (Ob psychisch oder physisch hängt von der konkreten Situation und den beteiligten Individuen ab.)
Selbstverständlich ist es einfacher, sich um den eigenen Flüssigkeitshaushalt zu kümmern, als um die Umsetzung des eigenen Traumhauses. Und selbstverständlich ist Ersteres wichtiger.
Wenn Du aber zu den Personen gehörst, denen es leichter fällt, die Bedürfnisse anderer zu erfüllen, als die eigenen, dann kann Dein Leben eine wunderbare Wendung nehmen, wenn Du Dich in Selbstfürsorge übst!
Lass Dich vom anfänglichen Gegenwind nicht verunsichern, wenn man sich ändert, gehört das dazu. Wenn ein Puzzleteil sich ändert, müssen die anderen sich erst einmal anpassen, das gibt Reibung. Langfristig geht es jedoch allen Beteiligten besser, wenn sie für sich selbst einstehen und klar darüber reden.
Herzlichst, wo immer Du gerade bist,
P.S.: Dabei darfst Du ruhig erst mal mit ganz kleinen Dingen anfangen: mit der Auswahl des Films, des Abendessens oder der Tischdecke. Du kannst Dich ja dann langsam steigern… ;-) Alle Vorschläge in die Kommentare, bitte! Ich bin gespannt….
P.P.S.: Selbstverständlich hängt Selbstfürsorge eng mit Selbstliebe und Selbstachtung zusammen…!
Hallo Johanna, danke für diesen Artikel. Ich finde Selbstfürsorge auch unglaublich wichtig, denn nur wenn ich mich gut um mich selbst kümmere, kann ich auch für andere da sein. Leider lernen wir das beim Erwachsenwerden selten. Und das Grenzen setzen wird häufig erst als notwendig gespürt, wenn die Energiequellen schon ziemlich leer sind.
Ich wünsche dir viel Erfolg bei deiner Arbeit, herzliche Grüße
Sabine
Danke Sabine,
ja, seine Selbstfürsorge zu entwickeln ist Teil der besten Resilienzstrategie, denke ich. Das Gute ist ja, dass man das immer noch lernen kann, auch als Erwachsene!
Herzlichst
Johanna