Es war einmal, so fangen alle Märchen an. Es war einmal ein Mädchen, dessen Kopf war voller als der Kopf anderer Kinder. Von außen konnte man das nicht sehen, sie war ein Kind wie jedes andere, mit langen Zöpfen und roten Wangen. Sobald sie aber den Mund aufmachte, merkten die Leute, dass sie doch nicht war wie jedes andere Kind. Das machte ihren Eltern große Sorgen.
Was sollte aus dem Mädchen nur werden? Sie war so seltsam!
Sie stellte zum Beispiel viele Fragen: „Warum macht man das so, und nicht anders?“ oder „Warum mögen wir Katzen aber keine Wölfe?“ oder einfach nur „Warum?“. Sie sagte auch Dinge wie: „Heute fühle ich mich mutig, lasst mich etwas Neues ausprobieren!“ und „Ich kann heute keinen roten Pullover anziehen, ich fühle mich grün!“ Doch selbst in ganz gewöhnlichen Gesprächen reagierte sie fremdartig. Fragte man sie beispielsweise, wie das Wetter sei, so sagte sie nicht: „gut“ oder „sonnig“. Nein, sie sagte so etwas wie: „genauso wie es gerade sein soll“ oder „abenteuerlustig, wie immer“ oder „die Sonne lacht so schön vom Himmel!“.
Das verwirrte die Menschen sehr.
Sie sahen das Mädchen seltsam an, und gingen fort. Das wiederum verwirrte das Mädchen.
Sie wurde stiller, suchte die Einsamkeit oder die Nähe von anderen seltsamen Wesen. Sie verstand sich immer gut mit Tieren, fühlte sich im Wald wie zu Hause und kannte jeden Stock und Stein. Sie fürchtete sich nicht vor der Hexe, sondern half der alten Frau oft mit dem Feuerholz oder den Einkäufen. Das Mädchen liebte Katzen, und die Katzen liebten sie.
Bei ihnen durfte sie nach Herzenslust die Fülle ihres Kopfes zeigen.
Vor den Hunden hatte sie anfangs Angst, lernte aber dann sie zu besänftigen oder einzuschüchtern, je nachdem. Mit Erwachsenen hatte sie keine Schwierigkeiten, man verstand sich nicht, blieb aber friedlich. Mit den Kindern dagegen kam das Mädchen gar nicht zurecht: diese ließen niemals locker, ärgerten sie, zogen sie an den Zöpfen und beschimpften sie, wenn ihnen gar nichts anderes mehr einfiel. Das Mädchen fand dieses Verhalten so absurd, dass sie sich bemühte, keinen Kindergruppen mehr zu begegnen. Mit einzelnen Kindern kam sie besser zurecht:
So war es leichter, für beide Beteiligten, den anderen zu verstehen oder zumindest für den Moment zu akzeptieren.
Und die Kinder liessen sich gerne Geschichten von ihr erzählen. Und Geschichten kannte sie viele, denn sie las. Das Mädchen liebte Bücher, sie las immer und überall, wenn sie gerade nichts anderes zu tun hatte. Davon wurde ihr Kopf natürlich noch voller, aber das scherte sie nicht. Sie stellte ja auch unglaublich viele Fragen, und merkte sich alle Antworten, und auch das füllte ihren Kopf. Und mit der Zeit, und der Erfahrung, lernte sie diese Fülle im Kopf zu schätzen.
Sie ärgerte sich nicht mehr, wenn sie merkte, dass sie anders war.
Nein, sie zog bunte Kleider an, trug Schellen an den Schuhen wie das fahrende Volk, und gab immer Antwort wenn man etwas fragte. Die Menschen gewöhnten sich daran, das bunte Mädchen zu fragen, wenn sie nicht weiter wussten. Denn auch wenn ihre Antworten manchmal wirr zu sein schienen, stellten sie sich nach längerem Nachdenken oft als sehr hilfreich heraus. Es war ein bisschen so wie mit der Kräuterhexe: man fürchtete sich ein bisschen, fand es immer anstrengend bei ihr, aber danach ging es einem meistens besser. Und so stellte sich heraus dass die Eltern sich ganz umsonst Sorgen gemacht hatten:
Aus dem Mädchen mit dem zu vollen Kopf wurde eben das bunte Mädchen und später die bunte Frau.
Die bunte Frau die auf alles eine Antwort wusste. Die bunte Frau die las. Die bunte Frau die zuhörte. Die bunte Frau die verstand. Und so wie die Kräuterhexe im Wald wurde auch die bunte Frau im bunten Haus zu einem besonderen Teil der gewöhnlichen Welt. Jeder Mensch kannte sie, viele Menschen fragten sie, andere schütteten einfach nur ihr Herz aus oder baten sie um Rat. Sie war sehr wichtig für die Kinder. Nicht für alle Kinder, nein, aber für die seltsamen Kinder, für die, die vollere Köpfe hatten als die anderen. Diese Kinder sahen die bunte Frau, und fürchteten sich nicht mehr vor ihrer eigenen Zukunft. Aber am wichtigsten war sie für die Menschen, die selbst einfach anders waren, oder seltsam, oder einen sehr vollen Kopf hatten, denn diese fühlten sich jetzt nicht mehr so allein.
Und wenn sie nicht gestorben ist, so liest und fragt und antwortet sie wohl noch heute.
Herzlich, wo immer Du gerade bist,
Zauberhaft, liebe Johanna! Und so wahr!
Und für mich ist es heute eine Freude zu sehen, dass es immer mehr bunte Mädchen und Frauen gibt – in meiner Jugend gab es nicht so viele. Und die meisten weisen Frauen, die ich treffen durfte, waren keine Bunten Frauen… Es lag auch etwas an den „staubigen Jahren“, vielleicht… Und auch an der Angst vor der Angst der anderen. Es waren Jahre, in denen viele Menschen auf keinen Fall auffallen wollten. Aber die Buntheit strahlt ohnehin eher aus den Augen, als dass sie sich in bunten Röcken und farbigen Tücherrn zeigt…
Ja, du hast mich nachdenklich gemacht mit deiner Geschichte, Johanna, wieder einmal. Danke!
Und zu bunter Kleidung und merkwürdigen Reaktionen darauf erzähle ich dir vielleicht ein andermal etwas.
Hab Dank und lass es dir gut gehen – und leuchte weiter so bunt in der Welt!
Herzlich, Friederike
Oh dankeschön, Friederike!!!
Herzlich und bunt, innen und aussen, Johanna