Wir alle haben unser eigenes inneres Normal, unsere ganz individuelle Vorstellung davon, wie ein normaler Mensch in der Welt lebt. Schließlich kennen wir nur uns selbst, zumindest können wir nur uns wirklich gut kennen. Jeden anderen Menschen erleben wir erst einmal von außen. Als Kind gehst Du ganz natürlich davon aus, dass es allen anderen Menschen in bestimmten Situationen oder mit bestimmten Dingen genauso geht wie Dir selbst.
Irgendwann lernen wir, dass Menschen unterschiedlich sind, die Welt unterschiedlich wahrnehmen und unterschiedlich auf sie reagieren.
Wir lernen, dass es andere Realitäten gibt als unsere eigene, dass unsere Persönlichkeit, unsere Erfahrungen, unsere Prägungen, unsere Gene alle in gewissem Maß unsere Realität prägen. Unsere Realität im Sinne unserer Erfahrung und Verarbeitung der äußeren Wirklichkeit.
Wir lernen, dass Normalität relativ ist, bzw. die Norm oft nur ein errechneter Durchschnitt, der sich gar nicht exakt in der Lebensrealität abbildet.
Das bleibt dabei erst einmal eine theoretische Geschichte. Nur wenn wir darüber nachdenken, spielt diese Erkenntnis eine Rolle. Im Alltag regiert unser Inneres Normal. Da wundern wir uns darüber, dass jemand etwas missversteht. Oder darüber, dass jemand Offensichtliches übersieht, vollkommen falsche Schlüsse zieht oder etwas in unseren Augen Dummes tut. Viele Menschen haben mir schon erzählt, dass sie diese Kollegen oder jene Verwandten einfach nicht verstehen, dass sie nicht begreifen können, wie die Person „so seltsam“ reagieren konnte. Es sei doch „ganz offensichtlich, dass man (…) genau so – nämlich (…) – tun müsse und nicht etwa (…)!“
Wir sind so gefangen in unserer eigenen Weltsicht, in der wir selbst das Maß aller Dinge sind, in der unser Normal gilt, dass es einen bewussten Schritt braucht, uns davon zu lösen.
Es hilft, einen Schritt zurückzutreten, und von einer neutraleren Perspektive auf den anderen zu blicken. Nimm Dir die Zeit, Dich zu fragen: wer ist dieser Mensch und wie kommt er zu diesem Verhalten? „Urteile nie über jemanden, bevor Du nicht einen Monat lang in seinen Schuhen gelaufen bist.“ lautet sinngemäß ein Sprichwort nordamerikanischer Ureinwohner. Mir gefällt dieses Bild, dass man die Lebensrealität eines anderen berücksichtigen muss, auch wenn ich eher darüber nachdenke, was dieser Mensch früher erlebt hat, welche Erfahrungen er gemacht hat und welche frühen Prägungen sein heutiges Verhalten vielleicht beeinflussen.
Seit ich weiß, dass ich zu den hochintelligenten Menschen gehöre, denen die schnelle Verarbeitung verschiedenster Informationen in kürzester Zeit vergleichsweise mühelos gelingen kann, frage ich mich in Konfliktsituationen durchaus auch: hat mein Gegenüber vielleicht einfach nur ein langsameres Inneres Normal?
Die Erkenntnis des eigenen Andersseins, der individuellen Natur unseres inneren Normals kann ein großer Schritt in Richtung mehr Gelassenheit sein.
Gerade wenn Du Deine Hochbegabung erst später im Leben erkannt hast, ist es oft nicht leicht, das über Jahrzehnte gewachsene Selbstbild angemessen zu korrigieren. Trauer über verpasste Gelegenheiten gesellt sich zur Wut über schwierige Erfahrungen von Zurückweisung, Zweifel und Einsamkeit. Der Verarbeitungsprozess braucht seine Zeit, keine Frage, und dennoch liegt in der Erkenntnis, ein außergewöhnliches Inneres Normal zu haben, der Keim für ein zufriedeneres, angemesseneres und freudigeres Leben. Auch oder gerade im Umgang mit Menschen, die so ganz, ganz anders ticken als Du selbst.
Danke liebe Johanna, für diesen und so viele andere inspirierende Artikel! Ich bin noch nicht lange mit dem Thema vertraut und freue mich sehr über derartige Spiegelung und Anerkennung!
Liebe Grüße von Miriam
Gern geschehen, Miriam!
Und ich danke Dir für Deine freundlichen Worte – das motiviert mich!
Herzlichst,
Johanna