Wie gehts Dir? Wenn Du denkst, dass es auf diese Frage nur eine gültige Antwort gibt, nämlich „Gut, danke, und Dir?“, dann lies bitte unbedingt weiter. Wenn Du auf die Frage eh immer eine ehrliche Antwort gibst, dann bin ich begeistert und wünsche Dir noch einen schönen Tag – Du brauchst sicher nicht weiterzulesen – aber ich würde Dich gerne persönlich kennenlernen!
Denn heute geht es um Alltagskommunikation rund um unser Befinden und welchen Einfluss sie auf unsere psychische und seelische Gesundheit hat.
Wenn ein flüchtiger Bekannter Dich nach Deinem Befinden fragt, dann wird er vermutlich nicht damit rechnen, mit schonungslosen Bestandsaufnahmen Deiner Gesundheit, Deiner Beziehungen oder Deines Berufslebens konfrontiert zu werden. Für solche Gespräche sollte schon eine größere Nähe bestehen. Aber selbst der Zufallsbekannte hat Ehrlichkeit verdient. Wenigstens eine kurze, bündige Antwort wie z.B.:
„Naja, gesundheitlich ist es momentan etwas schwierig, aber das wird sicher wieder. Danke, dass Du fragst.“
Wir sind es so gewöhnt, immer zu funktionieren, belastbar zu sein, uns keine Blöße zu geben und weiterzumachen, oft auch über unsere Grenzen zu gehen. Aus Sorge, den Arbeitsplatz zu verlieren, den Partner zu verärgern oder denen, die schon Probleme genug haben, auch noch zur Last zu fallen. Gerade berufstätige Frauen verlernen dabei leicht, auf sich selbst zu achten. Dann wird das automatische
– „Wie gehts Dir?“
– „Danke, gut! Und bei Dir?“
– „Gut, gut, danke!“
zu einer Beschwörung.
Bloß nicht hinsetzen, bloß nicht durchatmen, bloß nicht hinein spüren.
Denn sonst droht der Zusammenbruch. Wie viele Menschen kennst Du, die einen Burnout, Depressionen oder Ähnliches erlebt haben? Sicher zu viele. Ein kleiner Schritt, um solche Katastrophen zu vermeiden, ist tatsächlich die ehrliche Antwort auf die Frage nach dem eigenen Wohlbefinden. Aus mehreren Gründen. Einerseits ist es eine gute Gelegenheit, kurz innezuhalten, in sich selbst hineinzuhorchen, eine wichtige Bestandsaufnahme zu machen. Und es ist auch sehr gesund, mal kontrolliert ein klitzekleines Bisschen Dampf abzulassen.
Andererseits können wir im Austausch mit anderen auch feststellen, dass wir mit unseren Problemen gar nicht allein sind.
Wie oft hast Du schon gedacht, Deine Freundin hätte die perfekte Beziehung/den perfekten Haushalt/den perfekten Job/die perfekte Selbstbeherrschung? Wie oft kam‘s Dir schon so vor, als seist Du die Einzige, die gesellschaftliche Anlässe kompliziert und anstrengend findet? Und kennst Du die Vorstellung, als einziger nicht zu wissen, wie man sich am besten in einer bestimmten Situation verhält? Tja, das stimmt alles nicht. Das denken wir nur, weil wir nicht offen miteinander reden.
Wir alle haben Unsicherheiten, Selbstzweifel und Probleme. Alle, egal wie glatt die Fassade ist.
Wir tun uns selbst und einander also einen großen Gefallen, indem wir ehrlich sind, und uns mit echtem Interesse gegenseitig fragen, wie es uns gerade geht. Wenn wir unsere eigene Verletzlichkeit zugeben, erlauben wir unserem Gegenüber dasselbe. Auch ohne in endloses Gejammer zu verfallen, können wir uns kurz gegenseitig trösten und einander Mut zu sprechen. Wir Menschen sind Rudeltiere, wir brauchen einander. Keiner von uns kommt wirklich allein zurecht, auch wenn wir seit Jahrzehnten versuchen uns das einzureden.
Ehrlichkeit, was die eigene Verletzlichkeit angeht, kann Dein Leben verändern.
Statt insgeheim darauf zu hoffen, dass die perfekte Kollegin endlich einen Fehler macht, kann man den eigenen Fehler offen zugeben. Wer weiß, vielleicht reagiert die gar nicht so perfekte Kollegin mit humorvollem Verständnis und der einen oder anderen Anekdote. Wenn wir verletzlich sind, dann sind wir auch berührbar, nahbar.
Dann wird es einfacher, miteinander zu leben, statt gegeneinander oder in Konkurrenz miteinander.
Dabei ist es egal, ob im Freundeskreis, in der Familie oder im Beruf: alle Menschen profitieren davon, sich gesehen und gehört zu wissen. Und alle Menschen profitieren davon, ab und zu mal eine ehrliche Frage oder Antwort zu bekommen. Wir brauchen unser Rudel, unser Korrektiv, unser Gegenüber, um unser Leben gut leben zu können.
Also, sag mal ehrlich: wie gehts Dir?
Ich würde mich über Deine ehrliche und gerne auch ausführliche Antwort freuen!
Herzlichst, wo immer Du gerade bist,
Hallo, Johanna!
Sehr lustig finde ich, dass dein Text zu diesem Thema gerade jetzt erscheint.
Denn gerade in diesem und dem vergangenen Jahr fällt uns hier in Argentinien eine neue Offenheit im Umgang auf – nicht zu verwechseln mit dem Exhibitionismus der neuen Medien.
Früher war hier die englische Methode des „How-do-You-do?“ -„How-do-You-do?“ ohne Antwort üblich.
Vielleicht kommt es einfach durch den Mangel an Austausch in den unendlichen Monaten des totalen Isoliertseins – man will auch wirklich wissen, wie es dem anderen und seinen Leuten in dieser heftigen Zeit ergangen ist.
Persönlich habe ich schon vor Jahren entschieden, dass das „Danke, gut!“ fast immer eine Lüge ist und da uns jede Lüge schwächt (Vortrag der Ärztin Dr. Michaela Glöckler zum Thema Lüge), ich also auf die Frage jetzt meist mit „Danke: Essentiell gut!“ antworte – Betonung, Begrüßungs-Lächeln und der Gesichtsausdruck können schon ein bisschen mehr erzählen.
Aber weder dem Briefträger oder dem Gemüsehändler noch jedem meiner Patienten gegenüber will ich mich total öffnen – das kann bei manchen Begegnungen im nächsten Schritt erfolgen – schon wenn man ins Haus geht z.B.
Aber mein „essenziell gut“ ist nicht gelogen und wird meist richtig verstanden.
Jetzt bin ich gespannt, liebe Johanna, was du an weiterem Echo zum Thema herausgefordert hast!
Hab Dank, wie immer für deine Anregungen – und sei herzlich gegrüßt von der schon wieder viel zu heißen Südhalbkugel!
Friederike
Danke für diesen Beitrag, Friederike!
Ich wünsch Dir angenehme Abkühlung,
herzlichst, Johanna