Manchen scheint es erstaunlich leicht zu fallen: sie trennen sich von Dingen, Menschen und Gewohnheiten wie andere von Hautschuppen und alten Zeitungen, frei von emotionalen Verwicklungen. Den meisten Menschen aber geht das Loslassen nicht so leicht von der Hand. Schon das Ausmisten des Kleiderschranks kann dramatisch sein, kleine Änderungen in der gewohnten Umgebung führen zu großen Irritationen – weil Menschen keine Veränderungen mögen. (Das hatten wir hier schon mal, die Angst vor der Veränderung.)
Selbst Veränderungen zum Besseren verursachen oft instinktive Abwehr
Das Verlassen des gewohnten sicheren Umfeldes ist oft gerade bei Hochbegabten und Hochsensiblen mit Anspannung verbunden. Neues und Unbekanntes bedeutet immer Stress. Auch wenn es erwünschte und positive Veränderungen sind, müssen neue Eindrücke erst einmal verarbeitet werden. Daher brauchen gerade die hochsensiblen Hochbegabten immer eine Eingewöhnungszeit bei Neuerungen, und tun gut daran, sich diese ohne Gewissensbisse zu nehmen! Es ist oft hilfreich, ganz klar zu kommunizieren, dass man etwas länger braucht um sich umzustellen. (Erstaunlicherweise akzeptieren die meisten Mitmenschen das einfach so. Ohne Nachfragen. Ausprobieren!)
Aber Loslassen von altem Ballast, von Überholtem, Überlebtem – warum nur ist das so schwer?
Eigentlich sollte man doch erfreut sein, und sich nach der Befreiung sehnen. Das Positive sehen. Dennoch scheint es oft noch schwerer zu sein, ein bekanntes Übel gegen etwas unbekanntes einzutauschen, auch wenn das Unbekannte die Freiheit ist. Oder besser: weil das Unbekannte die Freiheit ist. Denn Freiheit schüchtert ein. Veränderung schüchtert ein.
Es ist, als würden wir wieder in unserer muffigen alten Höhle am Feuer sitzen, und den Versprechen der frischen Luft und weiten Sicht einer Holzhütte am Hang misstrauen. Unsere Höhle kennen wir, und wir wissen sie zu verteidigen. Die neue Situation bringt zwar Positives mit sich, aber eben auch neues Gefahrenpotential. Wer weiß schon, ob nicht ein böser Nachbar eine Geröll-Lawine losbrechen lässt? Oder die Hütte anzündet? Nein,nein, dann bleiben wir lieber in unserer dunklen Höhle, da fallen auch unsere Unzulänglichkeiten viel weniger ins Auge…
Was aber, wenn wir uns zum Loslassen entschieden haben, es aber nicht können?
Der Verstand hat nun eingesehen, dass es uns gut täte, die Höhle zu verlassen, schon aus gesundheitlichen Gründen. Aber nun wollen uns die Beine nicht tragen. Oder wir können uns einfach nicht aufraffen, sind wie gelähmt. Dann ist es gut, Freunde zu haben. Oder Freunde zu finden, indem man Menschen um Hilfe bittet. Womöglich welche, die ohnehin schon wissen, dass wir Veränderungen anstrengend und bedrohlich finden. Am Besten welche, die herzlos mit ihren alten Kleidern umgehen, und ständig neue Frisuren ausprobieren. Und los geht´s!
Deutlich komplizierter ist es, Erinnerungen oder Gedanken loszulassen.
Denn die, die uns helfen können, indem sie Kisten oder gar uns selbst aus der ollen Höhle schleppen, können leider nicht in unserem Kopf aufräumen. (Gruselige Vorstellung, bestimmt gibt es dazu ein paar dystopische Jugendbücher, vermutlich verfilmt…) Da müssen wir selbst ran. Unterstützen könne die Freunde uns dennoch, indem sie für uns da sind, uns gut zureden, und gegebenenfalls begleiten. In Fällen wo es um Traumaverarbeitung geht, bitte unbedingt Fachleute aufsuchen. Hier geht es um lästige Gedankenkarusselle, um überflüssige Sorgen oder negative Glaubenssätze – Dinge, mit denen ein gesunder Mensch allein klarkommen kann.
Gefahr erkannt – Gefahr gebannt
Das ist die präziseste Zusammenfassung. Denn wenn ich meine Gedankenspiralen erkannt habe, meine Glaubenssätze angeschaut und hinterfragt habe, ihre Wurzeln gefunden und sie von allen Seiten betrachtet habe, dann kann ich sie ausreißen, und in das Loch eine schöne neue Gedankenpflanze setzen, die ich mit Aufmerksamkeit giessen und großziehen kann. ( Tue ich das nicht, macht sich unweigerlich neues Unkraut in meinem Gedankengarten breit!) Dafür gibt es tausend Methoden, einfach mal umschauen, welche Dir am besten gefällt.
Loslassen von altem Unrecht, von bedrückenden Erinnerungen, auch da gibt es viele Möglichkeiten.
Wenn Du wie ich zu den Menschen gehörst, die mit einem aussergewöhnlich guten und präzisen Erinnerungsvermögen ausgestattet sind, dann weißt Du sicher, was ich meine: es gibt Erinnerungen die einfach nerven. Dinge, die lange her sind, die mich jetzt nicht mehr beeinträchtigen, und die nicht zu ändern sind, deren beteiligte Personen längst aus unserem Umkreis verschwunden sind. Dinge, die aufgearbeitet und sogar durchgesprochen worden sind, mit Freunden und Vertrauten. Dinge, deren Lektion ich gelernt habe, die ich durchschaut habe, und dennoch einfach nicht loslassen kann. Bei diesen Dingen, die mir wirklich nachgegangen sind, habe ich eine Methode genutzt, die hochsensiblen Menschen entgegenkommt, da man sich seine feine Wahrnehmung zu Nutze macht:
„Die Alternative Erinnerung“
Das Großartige hieran ist, daß unser Gehirn das ohnehin ständig macht. Du erinnerst dich an die letzte Diskussion bei der Familienfeier, wo Onkel Hinnerk und Onkel Fritzchen sich fast an die Gurgel gegangen sind, weil sie unterschiedliche Erinnerungen an den Tag ihrer Einschulung hatten? Ja? Diese Art alternative Erinnerung! Wir nutzen also einen bereits vorhandenen Mechanismus bewusst, und daher beschleunigt.
Der Ablauf
- Als erstes sicherstellen, daß man mindestens eine Stunde lang nicht gestört wird, und sich einen bequemen Ort suchen, an dem man gut entspannt sitzen kann, und sich sicher fühlt. Alle Störungen ausschliessen. (Auch Katzen.)
- Die fragliche Situation wird nochmal angeschaut. Wie es war, wird es in Erinnerung gerufen, locker die Fakten rekapituliert, um sich darauf einzustimmen.
- Im nächsten Schritt wird überlegt, welchen Ablauf ich mir denn gewünscht hätte, wie ich die Situation gerne erlebt hätte…wie hätte ich diese Geschichte denn gerne erlebt, um heute gerne daran zurück zu denken? Und genau so stelle ich mir die Situation dann nochmal vor: der ideale Ablauf wird visualisiert, mit möglichst vielen Details, in aller Ruhe. Genüsslich. Ausführlich.
- Gerne auch mehrfach wiederholt, auf jeden Fall inklusive aller Emotionen und eventueller körperlicher Empfindungen. Wenn man so will, darf man sich in diesen Wunschablauf richtig hineinsteigern, und so die alte Erinnerung wortwörtlich mit positiven Bildern überschreiben. (So wie ich neue Gedankenpflanzen in den Löchern der ausgerissenen Glaubenssätze großziehe.)
Ziel ist es, die „zurechtphantasierte“, imaginierte Wunschsituation so dermaßen lebendig im Kopf zu haben, dass sie sich über die real erlebte Erinnerung legt. - Danach gemütlich ins Hier und Jetzt zurückkommen und viel Wasser trinken.
Hier will ich nochmal betonen, daß ich dieses Vorgehen nur bei den wirklich bearbeiteten und verstandenen Erlebnissen gutheiße. Ich appelliere an die Mündigkeit meiner Leser, und bitte im Zweifel um Zusammenarbeit mit einer sympathischen Fachperson.
Wenn man sich daran gewöhnt hat, daß nun gewissermaßen zwei Versionen der Erinnerung im Kopf existieren, wird man merken: je häufiger man sich die angenehmere Version in Erinnerung ruft, um so mehr verblasst die andere. Sie hört auf, zu nerven. Endlich!
Diese Methode habe ich nur bei einem Erinnerungsstrang eingesetzt, der mich 20 Jahre lang immer wieder geärgert hat. Und diesen Ärger wollte ich loslassen. Botschaft verstanden, Lektion gelernt, Menschen leider nicht aufzufinden – da war dies hier die letzte Möglichkeit. Alle anderen Erinnerungen möchte ich gar nicht missen!
Manchmal ist der Kontrast zwischen der Erinnerung und dem Heute auch ein Quell der Freude!
Darum möchte ich mich nicht bringen. Es tut gut, zu sehen, wieviele Veränderungen man nun doch schon gut überstanden hat. Wenn ich mich daran erinnere, dann habe ich mehr Mut, den nächsten Umwälzungen mit erhobenem Haupt und immer schön locker in den Knien entgegenzusehen…
Dir wünsche ich schöne Erinnerungen, und sanfte Veränderungen, und einen klaren Blick auf den Weg, den Du schon gegangen bist – hey, Du hast es schon weit geschafft! Weiter so! Und wenn Du mal jemanden brauchst, der Dich aus deiner Höhle schafft, mail mir einfach, ok?
Herzlichst, wo immer Du gerade bist,
Wunderbar, Johanna, mit allen Beispielen und besonders auch der Übung zum Überlagern der „bösen“ Erinnerung! Wie hast du das mitten im Umzug geschafft?! Vorgearbeitet? Denn eine kleine Rückzugspause vom Umzugsstress reichte da wohl kaum aus…?
Manchmal beneide ich Menschen mit wenige gutem Erinnerungsvermögen – nicht zu reden von den Glücklichen, die einfach loslassen können – ExtraDank für die Übung!
Ich genieße jeden deiner BlogBeiträge, lerne immer etwas daraus und schicke Dir ein großes Dankeschön! Viel Erfolg und befriedigende Arbeit!
Danke, Friederike!
Leider habe ich das Vorarbeiten noch nie geschafft. ..also war der Mittwoch Vormittag wie immer dem Bloggen gewidmet! Alles eine Frage der Organisation. … und die Muse freut sich, dass sie regelmäßig küssen darf. ;-) :-)
Herzlichst,
Johanna