Viele Hochbegabte in meiner Umgebung haben ein Faible für Fantasy, Science Fiction oder „Esoterik“. Es ist, als würde ihnen die real alltägliche Welt nicht reichen, als müssten sie sich noch in andere Welten hineindenken. Warum ist das so? Ist das einfach ein geistiges Nicht-ausgelastet-sein?
Oder ist es eine hochsensible Wahrnehmung im metaphysischen Bereich, die dann natürlich im Versuch sich die Welt zu erklären, die man wahrnimmt, die Beschäftigung mit anderen Ebenen der Wirklichkeit nach sich zieht? (Hier die Abbitte an alle, die sich schon über den missbrauchten Begriff „Esoterik“ aufgeregt haben. Wer eine hochsensitive Begabung hat und lebt, der wird einer artverwandten Autorin eine kleine sprachliche Vereinfachung hoffentlich verzeihen…)
ScienceFiction und Fantasy Leser als sensible, phantasievolle, hochbegabte Weltenwanderer
Ich entwickle mal ein Konzept: die hochsensitiven Hochbegabten suchen ihre Erklärungsmodelle eben in der Metaphysik, in verschiedenen Kulturen und Schulen. Diejenigen, die aus ihrer Edukation heraus nicht akzeptieren können, dass es Elementarwesen oder Auren oder energetische Heilmethoden gibt, müssen ihre überschiessende Vorstellungskraft in den Dienst der Wissenschaft stellen, also die revolutionäre aber rationale Science Fiction ansteuern. Und diejenigen, die in einem noch geschlosseneren Weltbild aufwachsen, umgeben von normal begabten Menschen, die normale Probleme und normale Lösungswege zur einzigen Realität erklären, die suchen für ihre psychischen und geistigen Fähigkeiten ein „harmloseres“ Ventil, zu weit entfernt von der sie umgebenden Welt um Transfer oder Auswirkung im Alltag zuzulassen, und daher vermeintlich ungefährlich: Fantasy. Selbstverständlich sind alle denkbaren Mischformen inbegriffen.
Also, die wilde These: unbewusste, unerkannte Hochbegabung fliegt auf Fantasy, gelebte Hochbegabung ohne bewussten spirituellen Anker fliegt auf Science Fiction, gelebte Hochsensibilität mit Hochsensitivität fliegt auf Metaphysik.
Sind dann nicht auch die Autoren von Fantasy und ScienceFiction hochbegabt?
Stanislaw Lem soll mit einem IQ von 180 das intelligenteste Kind Polens gewesen sein, Isaac Asimov war einige Zeit (kritisches) MENSA-Mitglied… da scheint es doch ein Muster zu geben. Und wenn man bedenkt, dass viele Autoren von Fantasy oder Science Fiction wissenschaftliche Karriere gemacht haben, dann ist es leicht, in der belletristischen Arbeit ein Ventil für unausgelastete Begabungsbereiche zu sehen. Bei Recherchen zum Thema stiess ich auf die Masterarbeit von Matthias Giger, von 2006, mit dem Titel „Hochbegabung und Science Fiction – phantastische Zusammenhänge?“ ( zu finden unter http://www.gigers.com/matthias/begabt/Masterarbeit_Hochbegabung_SF.pdf ). Giger hat sich also die Frage auch gestellt, wenn auch in engerem Rahmen, nur auf die Autoren bezogen, und kommt zum Ergebnis, dass es sehr wohl eine Häufung von Hochbegabten unter den englischsprachigen Science-fiction Autoren gibt, die er näher untersucht hat. Giger schreibt auf S.158, letzter Absatz:
„Die zu ziehende Schlussfolgerung lautet: Science-Fiction ist nicht einfach Unterhaltungsliteratur für einfache Gemüter, sondern hat bei entsprechender Auswahl gerade für Hochbegabte viel zu bieten. Sei dies, weil sie originelle Ideen aufgreift und alternative Szenarien entwickelt oder aber, weil sie die Anliegen und Probleme, denen sich Hochbegabte stellen müssen, thematisiert wie keine zweite Literaturgattung.“
Das passt zur Wahrnehmung in meiner Umgebung: Bücher, Serien und Filme über Superhelden, über Teams mit unterschiedlichen Begabungsschwerpunkten, beispielsweise im Bereich der kinetischen oder interpersonellen Intelligenz, über Autisten oder einfach sehr besondere Menschen… überall findet man zur Zeit das Thema des Anders-seins, der in irgendeinem Bereich überdurchschnittlichen Begabung. Wenn man hinschaut. Wenn man das Thema aktiv sucht. Wenn man sensibel dafür ist. Wenn man betroffen ist. (Ob selbst oder als Angehöriger sei dahingestellt.) Weit entfernt davon, Opium fürs Volk zu sein, oder einfacher Eskapismus, gibt diese Literatur, geben diese Filmwelten, den Menschen, die damit in Resonanz gehen, das Gefühl nicht allein zu sein. Die Sicherheit, gesehen und wahrgenommen zu werden.
Dieser Eskapismus ist für hochbegabte Weltenwanderer lebensnotwendig!
Und weil mir gerade danach ist, stelle ich noch eine These auf: diese Form des Eskapismus, dieses Eintauchen in fremde, phantastische, ferne Welten, ist für hochbegabte Menschen nicht schädlich, wie von manchen Lehrern und Eltern behauptet, sondern sogar lebensnotwendig! Im Stoff selbst finden sie sich in adäquaten Identifikationsfiguren wieder, und lernen die Bewältigungsstrategien anderer (unter Umständen der Autoren) kennen, und in der Fangemeinschaft, im Fandom, können sie die Geborgenheit des Rudels erleben, die ihnen sonst so oft gefehlt hat. Dieses Gefühl, endlich ein gemeinsames Thema zu haben, wenn man feststellt, dass man mit einem Sofa in einem Treppenhaus oder mit Delfinen, die sich für Fisch bedanken, viel mehr verbindet, als unbelesenere Zeitgenossen – unbezahlbar! Stundenlanges Ausdiskutieren der Konsequenzen gewisser Elemente, ich erinnere nur an die Frauen der „BigBangTheory“ und Thors Hammer, ist für mich ein sicheres Anzeichen von Hochbegabung. Die spielerische Auslastung der Hirnkapazität, gemeinsam mit Gleichgesinnten, heilt und hilft. Und dass es gut tut, mal nicht der Freak zu sein, sondern liebevoll herablassend über die Muggels zu reden, wissen vermutlich alle betroffenen Jugendlichen. Hermine, als hochbegabtes Kind in eine Durchschnittsfamilie geboren, darf endlich zeigen, was sie kann! Und Sheldon Cooper ist, bei aller Unerträglichkeit, doch irgendwie liebenswert.
Also, was meint Ihr? Seid Ihr hochbegabte Weltenwanderer?
Über Austausch zu diesem großen Thema freue ich mich sehr, denn als unersättliche Leserin, Verfechterin der philosophischen und psychologischen Meisterschaft vieler Fantasy Romane, leidenschaftlicher SerienJunkie und phasenweise Cineastin bin ich der vielen „Das ist billige Weltflucht“- Kommentare überdrüssig! Und wie geht es Dir damit?
Herzlichst, wo immer du bist,
Hallo,
ich hab das gelesen und… mich in allem wiedererkannt. Ich habe gemerkt, wenn ich nicht regelmäßig eine der anderen Welten aufsuche, fühle ich mich unheimlich leer. Ich habe immer schon Fantasy Bücher geradezu verschlungen, und dann auch selbst ein paar Geschichten geschrieben, mein Vater ist Autor und hat sogar relativ großen Erfolg.
Ich dachte immer, ich wäre mit meinen Vorstellungen allein, aber anscheinend gibt es doch noch andere Menschen mit ähnlichen Ansichten wie ich! Ich fühle mich durch diesen Artikel gestärkt, danke Johanna!
Das freut mich sehr – danke für das Mit-teilen!
Herzlich,
Johanna
Ich weiß nicht, ob ich den ersten Thesen zustimme, nicht zustimmen kann ich jedenfalls der These, dass dieser Ekapismus für Hochbegabte notwendig ist. Alles kann, was hilft, und gleichzeitig: nichts muss. Und ich bin nicht sicher, ob es nicht eine Grenze des Eskapismus gibt, bei deren Überschreiten sich ein sagen wir mal: besonders feinfühliger und phantasiereicher Mensch – sich selbst Schaden zufügt, wie bei anderem Suchtverhalten auch, weil er sich selbst um die Chance bringt, seine Emotionen, Werte und Ideen in der Realität umzusetzen und zu leben.
Ich würde deshalb as „Faustregel“ sagen: Phantasieflucht ja, solange sie entspannt und Energie gibt, um sich selbst zu leben – in der realen Welt.
Hallo Antje,
willkommen im bunten Leben! :-)
Natürlich war meine Formulierung mit dem überlebensnotwendigen Eskapismus eine Provokation.
Das ist schon so gemeint gewesen: sich mit Phantasiegebilden zu befassen hat eine psychohygienische Funktion, und ist oft auch der Weg zu neuen Erfindungen und Ideen (hierbei denke ich an den Cyberspace des William Gibson, als ein Beispiel), einfach aus der inneren Notwendigkeit heraus, seine Begabungen auch einzusetzen – und nicht zu unterdrücken oder zu negieren.
Und der Aspekt der Identifikation ist gerade bei den sich immer als „anders“ empfindenden Menschen wesentlich. Da hilft es einem extrem Sensitiven schon, von einer Welt zu lesen, in der Telepathen eine Selbstverständlichkeit sind.
Wie überall auch hierbei: Dosierung beachten. Auch Wasser kann tödlich sein, und dennoch brauchen wir Wasser zum leben.