Der Mensch ist ein zoon politikon, ein geselliges Lebewesen. Wir stehen nie allein, wir haben Mitmenschen: Herkunftsfamilie, Wahlverwandtschaft, Kollegen… wir interagieren. Selbst in reduzierter Umgebung wie einem Kloster findet doch in der Regel eine Gemeinschaft aus einigen Menschen zusammen. Noch dem Forscher des abstrusesten Gebietes stehen Kollegen oder Geldgeber zur Seite. Wir entkommen der Gemeinschaft immer nur vorübergehend.
Wollen wir der Gemeinschaft überhaupt entkommen?
Viele Hochsensible, darunter auch ich selbst, begrüßen jeden Moment der Ruhe und Einsamkeit wie Verdurstende. Sich zurückzuziehen, nach eigenen Rhythmen essen, schlafen, arbeiten, welch paradiesischer Zustand! Und dennoch bleibt der Mensch menschlich, bleibt ein Wesen mit Sehnsucht nach Berührung, nach Zuwendung, nach Bestätigung und Reibung gleichermaßen.
Wir wollen und können uns wohl nur in der Interaktion und Kommunikation vollends entfalten.
Für manche mag die Kommunikation mit der Quelle, mit der Natur oder mit Gott, wie immer Du ihn nennen magst, ausreichend erscheinen. Doch selbst ihnen wird in Momenten der Not oder Schwäche die tröstende Hand auf der Stirn fehlen. Und in Momenten des Jubels fehlen die strahlenden Augen und das offene Herz eines freundlichen Mitmenschen, der den Jubel zu teilen vermag.
Auf Reisen sammeln wir verzückt neue Eindrücke, überprüfen alte Träume und entdecken unfassbare Schätze, die wir am liebsten unseren Liebsten zeigen und mitteilen wollen… wir werden zu Briefeschreibern und Poeten, wenn wir in der Einsamkeit übersprudeln.
Ständig überprüfen wir uns im Spiegel unserer Mitmenschen.
Nicht im Sinne einer technischen Überprüfung auf Funktion und Sicherheit, wohl aber zur Sicherung der Normalität und Kompatibilität. Denn, wie gesagt, der Mensch, das zoon politikon, ist stets Teil eines größeren Zusammenhangs, und vermag seine geistige und seelische Gesundheit nur eingebunden zu erhalten. So werden zwar die Poeten und Philosophen sich zurückziehen, die Künstler in Schaffensperioden auf allen Kontakt verzichten wollen, und die Hochsensiblen vor der Reizüberflutung in die Einsamkeit fliehen, aber sie alle werden sich immer wieder nach Berührung sehnen, nach neuen Reizen, nach Erleben, und zurück kehren in ihre menschlichen Zusammenhänge.
Netzwerk klingt kalt, Verstrickungen klingt nach Problemen – ich will es Beziehungsgeflecht nennen.
Dieses Geflecht trägt uns durch unser Leben, wir spüren schmerzhaft jeden Faden, der reisst, jeden Verlust. Viele von uns empfinden es als harte Arbeit, diese Fäden zu erschaffen. Sie haben nicht die unbefangene Leichtigkeit mancher Kinder, in jeder Situation Freunde zu finden. Gerade Menschen, die sich stets als anders erleben, die begabter, sensibler, nachdenklicher, sinnlicher oder auf tiefgreifende Weise ganz anders sind als alle ihnen bekannten Menschen, gerade die suchen nach Gleichen, und oft bilden armdicke Taue die weiten Maschen ihrer über lange Jahre mühsam geknüpften Geflechte.
Die wichtigen Mitmenschen, die uns Gleichen unter all den Fremden, die lassen wir nicht mehr ziehen.
Wir bleiben ihnen verbunden, selbst über Jahre der Kontaktlosigkeit hinweg, und nehmen unsere Unterhaltungen immer wieder auf, als sei nur ein Moment vergangen. Diese Beziehungen bilden die tragende Struktur unseres Netzes. Nicht austauschbar. Dagegen wird selbst die freundlichste Bäckerin ersetzbar bleiben. Diese alltäglichen Begegnungen, Pförtner, Verkäufer, Bankangestellter, sie bilden die feineren Maschen Deines Beziehungsgeflechtes. Glücklich können wir uns schätzen, wenn es uns gelingt einen sanften, starken Faden durch einen ebensolchen zu ersetzen, bei einem Umzug beispielsweise.
Durch das Bild des Geflechts wird auch die Zeit verständlich, die es braucht, einen Verlust zu verkraften und neue Bindungen zu knüpfen.
Dennoch bleibt auch der Rückzug in die Einsamkeit dem Menschen notwendig. Jeder einzelne von uns braucht sie in unterschiedlicher Dosierung und Intensität. Aber wir brauchen sie alle. Die Einsamkeit bildet zugleich die Ursache für und die Luft zwischen den Maschen unseres Beziehungsgeflechtes.
Ich wünsche Dir immer genug Halt in deinem Beziehungsgeflecht, und immer genug Einsamkeit, um es geniessen und würdigen zu können.
Herzlichst, wo immer Du gerade bist,
P.S.: Meinst Du, Du bist gut im Netzwerken?
Oder fällt es Dir eher schwer, Dein Beziehungsgeflecht enger zu knüpfen und zu reparieren?
(Ich persönlich finde das gar nicht leicht…)
Wow, Johanna!
Deine Beschreibung zu dem Beziehungsgeflecht mit den verschieden dicken Strängen usw. hat mich intensiv und tief angesprochen!
Auch des Erwähnen der angesprochene Verbindung, die einfach immer bleibt – zumindest von meinem Ende des Stranges aus -, erleichtert mich sehr. (Des Öfteren wurde ich deswegen schon belächelt oder nicht ernst genommen und dachte das wäre nur so ein Ich-spezifisches Ding (-: )
Herzlichen Dank und alles liebe,
Nicole
Oh, Danke!
Ja, ich habe einen Freund den ich auch mal zwei Jahre nicht spreche, aber dann, im ersten Atemzug, sind wir genauso nah wie immer. Als wäre es ein einziges langes Gespräch, über Jahrzehnte…
Und das geht noch mehr Menschen so, damit sind wir nicht allein… ;-)
Lieben Gruß,
Johanna
Sehr schöner Begriff, der mir gerade wieder dazu eingefallen ist: ubuntu !
Ich zitiere nach https://de.wikipedia.org/wiki/Ubuntu_(Philosophie) :
Ubuntu, ausgesprochen [ùɓúntú], bezeichnet eine afrikanische Lebensphilosophie, die im alltäglichen Leben aus afrikanischen Überlieferungen heraus praktiziert wird. Das Wort Ubuntu kommt aus den Bantusprachen der Zulu und der Xhosa und bedeutet in etwa „Menschlichkeit“, „Nächstenliebe“ und „Gemeinsinn“ sowie die Erfahrung und das Bewusstsein, dass man selbst Teil eines Ganzen ist.
Damit wird eine Grundhaltung bezeichnet, die sich vor allem auf wechselseitigen Respekt und Anerkennung, Achtung der Menschenwürde und das Bestreben nach einer harmonischen und friedlichen Gesellschaft stützt, aber auch auf den Glauben an ein „universelles Band des Teilens, das alles Menschliche verbindet“. Die eigene Persönlichkeit und die Gemeinschaft stehen in der Ubuntu-Philosophie in enger Beziehung zueinander.
Liebe Johanna, mir mal wieder aus der Seele gesprochen! Ich bin fest davon überzeugt und habe es vielfach erlebt, dass tragfähige Bindungen für gelingendes Leben unverzichtbar sind! Gerade auch für uns Hochsensible
Ja <3 <3 <3