Verbundenheit und Freiheit… schwierige Begriffe vor allem für Hochsensible.
Zu viel Nähe ist genauso schmerzhaft wie zu viel Einsamkeit, zu viel Freiheit genauso schlimm wie zu enge Verbundenheit. Wo beginne ich? Wo höre ich auf? Welches Gefühl ist meins? Welches kommt von Dir? Wo ist genau die Grenze zwischen meinem Tanzbereich und deinem Tanzbereich?
Wenn ich deine Gefühle so genau spüre wie meine eigenen, dann ist die Unterscheidung schwer. Da fühle ich beispielsweise einen Ärger, oder eine Gereiztheit, die sich nicht erklären lassen. Doch bevor mir bewusst wird, dass dieses Gefühl gar nicht meines sein kann, habe ich oft schon eine schnippische Antwort gegeben, einen genervten Seufzer losgelassen oder ähnliches. Und damit eine Diskussion oder Verstimmung befeuert, die unnötig gewesen wäre – die dazu führt, dass ich nun natürlich selbst ärgerlich werde. Hätte ich mein anfängliches Gefühl als empathisch aufgefangenes Signal meines Gegenübers erkannt, dann wäre meine Reaktion eher ein einfühlsames „Na, was ist denn los? Willst Du drüber reden?“ gewesen.
Eine andere Konfliktsituation entsteht, wenn ich zu etwas selbst keine Lust verspüre, aber die Enttäuschung der anderen mich so sehr beeinflussen würde, dass ich lieber entgegen meiner Wünsche auf etwas wie beispielsweise einen Ausflug eingehe, als mich dieser Enttäuschung auszusetzen.
Als hochsensibler Mensch beziehe ich automatisch immer die Gefühlsentwicklung meiner Bezugspersonen in meine Entscheidungsfindung ein. Aber immer wieder über Grenzen zu gehen, immer wieder meinen eigenen Bedürfnissen nach Rückzug zuwider zu handeln, macht mich auf Dauer unglücklich und krank.
Hochsensible müssen Grenzen setzen lernen
Meine Freiheit, die innere Unabhängigkeit genauso wie die Handlungsfreiheit, ist ein wesentlicher Pfeiler meines Wohlergehens. Ich muss als Hochsensible die Zeit und den Raum für Rückzug haben, gesammelte Eindrücke verarbeiten, und mein System zur Ruhe kommen lassen. Aber ich muss genauso neue, von mir gewählte Eindrücke sammeln können, selbst entscheiden, was und wo ich tue, und – vielleicht am allerwichtigesten: mit wem.
Die Empathie macht den Umgang mit anderen Menschen oft sehr anstrengend, ihn radikal einzuschränken ist aber keine Lösung: alle Hochsensiblen und Hochbegabten kennen das tiefempfundene Gefühl der Einsamkeit, das Gefühl von einem anderen Stern oder mindestens aus einer anderen Familie durch unglückliche Umstände ins gegnewärtige Leben geraten zu sein. Wir sehnen uns nach Zugehörigkeit.
Denn auch Verbundenheit ist für Menschen existentiell wichtig. Wir sind keine Inseln, wir sind gewissermaßen Rudeltiere: eine Ordnung herrscht innerhalb eines Sozialgefüges, die dem Einzelnen ermöglicht, sich an seinem optimalen Platz zu entfalten. Das klingt utopisch? Nun, wenn wir zu unseren Bedürfnissen stehen, uns zeigen, wie wir sind, wenn wir unsere Grenzen klarstellen und auch Nähe einfordern, dann nehmen wir den optimalen Platz immer mehr ein. Finden immer mehr zu unserer ganz individuellen Balance zwischen Nähe und Distanz, zwischen Verbundenheit und Freiheit.
In gut gesetzten Grenzen entsteht Geborgenheit
Deshalb ist es für jeden Menschen wichtig, sich selbst und seine Bedürfnisse zu erkennen und zu zeigen. Umso wichtiger für die besonderen, die außergewöhnlich wahrnehmenden, für die, die alle Signale der anderen wahrnehmen und verarbeiten… (und ja, Hochsensibilität ist für mich eine Form der Hochbegabung)
Wenn ich meine Schwelle für zuviel Eindrücke kenne, kann ich mich zurückziehen wenn ich es brauche. Und sei es nur für eine Tasse Tee am Fenster, bewusst abgewandt von Kollegen und Mitmenschen. Wenn ich die Grenze immer früher sehe, die zwischen deinen und meinen Gefühlen verläuft, dann kann mehr Frieden sein. Dann kann ich dich besser sehen, und mich dir besser zeigen. Dann können wir gemeinsam erkennen, wo wir uns am besten treffen, und können genau an der Stelle ansetzen um eine tragende Verbindung aufzubauen.
Aus diesem Wechselspiel zwischen Beziehungen und Individualität heraus, erkenne ich meinen Platz: den Raum, in dem ich mich leben, meine Bedürfnisse und Eigenheiten schützen und mein Potential entfalten kann. Darin bin ich geborgen. Wenn ich diesen Platz der Balance zwischen Verbundenheit und Freiheit für mich gefunden habe, dann kann ich unabhängig von Beziehungen, von Lebensgefährten, Kindern oder Bezugspersonen meine Geborgenheit in der Welt spüren.
Gerade Hochsensible profitieren also von Selbsterforschung und -erfahrung: denn immer schneller und genauer zu verstehen, was man gerade wahrnimmt, verhilft eben zu dieser Entwicklung: vom In-die-Welt-geworfen-sein hin zu einem Menschen, der in dieser Welt geborgen lebt. Und das wünschen wir uns alle, oder was meinst Du?
Liebe Johanne, ich meine, dass dies ein hochinteressanter Themenkomplex ist. Und ja: Zugehörigkeit und Geborgenheit sind wichtig. Und sicher gibt es oft auch den tief empfundenen Wunsch danach – sofern man ihn sich eingesteht. Denn so richtig schick und cool ist das ja nicht. In der Regel genügt es anderen ja, wenn wir funktionieren. Genauer hinsehen ist einfach zu aufwändig. Mir geht das auch oft so. Geborgenheit entsteht in gut gesetzten Grenzen, schreibst du. Grenzen setzen und Türen öffnen – ein ziemlicher Balanceakt, der uns wohl alle – und sei es unbemerkt – ziemlich auf Trab hält. Liebe Grüße, Ulla
Oh Ulla,
„Grenzen setzen…Türen öffnen“…! Ja! Danke für die Formulierung… sitzt. ;-)
Herzlichst, Johanna