Märchen

Vom Vögelein, das im Winter daheim blieb und doch die Sonne fand

Ein Vögelein auf einem Tisch, mit Frau, Hund und Katze, die es anschauen und Sonne im Hintergrund. ©Johanna Ringe 2023 www.dein-buntes-leben.de
Es war einmal, so fangen alle Märchen an. es war einmal ein Vögelein.

Der Sommer war voll gewesen, warm und bunt, und nun wehten die Herbstwinde übers Land. Das Vögelein liebte es sich von ihnen tragen zu lassen, von Baum zu Baum, von Feld zu Feld. Nachts duckte es sich tief in sein Nest, um warm zu bleiben. Tagsüber tanzte es durch die Gärten, bis es satt war. Dann stieg es hoch auf, über die Wipfel der Bäume. Der Himmel war weit und bewölkt, doch der Blick ging weit übers Land.

Das Vögelein schaute oft sehnsuchtsvoll zum Horizont, wo der Fluss in der Ferne verschwand.

Oh, wäre ich doch groß und stark wie die Störche. Dann könnte ich in wärmere Länder fliegen, statt im Winter hier zu frieren und zu hungern, dachte das Vögelein. Doch zugleich liebte es seinen Garten, den alten Baum in dessen Herz seine Höhle lag. Nahrung gab es reichlich und auch Wasser im Überfluss. Der Garten war weitläufig und verwildert, große Fliederbüsche und Rhododendren wechselten sich mit Staudenbeeten und Rosen ab. Etliche große alte Bäume verteilten sich darin und spendeten ihren Schatten den Hortensien und Stiefmütterchen.

Es gab auch ein Haus. Nicht groß, nicht klein, gerade richtig.

Es gab eine Hundehütte und eine Katzentür, ein altes Fahrrad sowie einen uralten Wagen unter einem löchrigen Dach. Und es gab die Frau. Die Frau ging manchmal durch den Garten, schaute sich alles an, lächelte, sprach hier mit den Pflanzen und pflückte sich dort einige Blüten, die sie mit ins Haus nahm. Einmal hatte sie mit dem Vögelein gesprochen, aber es war zu schüchtern gewesen, um zu antworten. Seitdem mied es das Haus.

Bis zu diesem Tag.

Der Tag hatte mit strahlenden Sonnenstunden begonnen, doch dann zog eine tiefschwarze Wolkenfront herauf, und die Bewohner des Gartens wurden unruhig. Das Vögelein nutzte den Trubel, um sich den Bauch mit Insekten zu füllen. Es tanzte und flog durch die Luft und wurde von den ersten heftigen Windböen überrascht. Ein lauter Knall, ein greller Blitz, und eine Böe die das Vögelein geradewegs durch die Küchentür warf. Es schlug sich den Kopf an der Wand an und fiel wie tot zu Boden.

Als das Vögelein wieder zu sich kam,

saß es in einem weichen Nest aus Stoff, vor sich ein Becherlein mit Wasser und ein Schälchen mit einigen Körnern darin. Der Flügel tat ihm weh und es versuchte zaghaft ihn zu bewegen. „Lass das lieber, kleiner Freund, das muss heilen!“ erklang eine tiefe Stimme. Der Kopf des Hundes, aus der Nähe riesengroß, schob sich über den Rand des Nestes. Das Vögelein erschrak. Doch der große Kerl redete ihm gut zu, erzählte von der Frau, die ihm helfen würde, und von der Katze die keinem Tierchen was zu leide täte. Das erschöpfte Vögelein ließ sich beruhigen und schlief wieder ein.

Als es das nächste Mal zu sich kam,

immer noch im weichen Nest, saß die große schwarze Katze vor ihm. Die großen leuchtenden Augen schienen ihm geradewegs ins zitternde Vogel Herz zu schauen und das Vögelein fürchtete sich sehr. „Beruhige Dich, kleiner Freund, Du bist hier sicher!“ schnurrte die Katze. Sie schob die Schale mit dem Futter etwas näher an das Vögelchen heran und zog sich wieder zurück. Mehr sagte sie nicht, sondern blieb in seiner Nähe ruhig liegen und schnurrte bis das Vögelein wieder einschlief.

Als es zum dritten Mal zu sich kam,

da schaukelte das weiche Stoffnest sanft hin und her, und es hörte die Stimme der Frau ein leises Lied singen. „Hallo kleiner Freund, geht es Dir besser?“ unterbrach sie sich. Sie saßen im Schaukelstuhl beim Kamin, auf dem Teppich lagen Hund und Katze beieinander, draußen tobte der Sturm immer noch. Das Vögelein schaute sich um. Die weißen Wände hingen voller bunter Bilder, etliche Regale bogen sich unter dem Gewicht vieler Bücher und die hellen Möbel waren gemütlich gepolstert mit bunten Kissen und Decken. Auf dem Herd summte der Kessel und in einem Topf brodelte eine duftende Suppe.

Es war warm, hell und friedlich.

Das Vögelein sagte „Danke.“ Die Frau lächelte und strich ihm ganz sanft über den Rücken. „Aber immer gerne, kleiner Freund. Wer in meine Küche fällt und Hilfe braucht, dem helfe ich auch. Und jetzt schlaf Dich gesund. Ich werde ein bisschen singen.“ Und das tat sie. Ihr Gesang füllte den Raum mit Sonnenstrahlen und die drei Tiere wärmten sich darin.

Der Flügel heilte wieder, und das Vögelein konnte wieder durch die Luft tanzen.

Doch draußen war das Wetter immer kälter und ungemütlicher geworden, und der Garten lag jeden Morgen unter einer stacheligen Schicht Raureif. Die Frau hatte ein kleines Körbchen an die Küchenwand gehängt und mit dem weichen Stoff gepolstert. Den Wassernapf teilten sich die drei Tiere, und Körner fielen genug aus dem Brotkasten. Die Fliegen, die sich ab und zu ins Haus verirrten, fing das Vögelein schnell und gern. Wenn den Hund einen Floh plagte, kümmerte sich der kleine Freund darum, ebenso bei der Katze. Es schlief gut und tief in seinem neuen Nest, zwitscherte gern mit den großen Freunden, und liebte die Abendstunden voller Gesang und Geschichten.

An den sonnigen klaren Wintertagen gingen sie alle hinaus in den Garten.

Das Vögelein flog herum, der Hund begleitete die Frau auf ihrem Rundgang, und die Katze kletterte durch die Bäume und Büsche. Manchmal ging die Frau für Stunden fort. Manchmal blieb das Vögelein ein paar Stunden draußen, oder die Katze jagte in der Nacht. Aber am Abend zündete die Frau immer die Lichter an und sie setzten sich gemeinsam an den Kamin und erzählten und sangen.
Und als die Tage wieder länger und wärmer wurden, da zog der kleine Freund wieder hinaus in den Garten. Jeden Tag besuchte das Vögelein seine Freunde im Haus, und die Katze setzte sich oft zu ihm auf den Ast vor dem Nest.

Doch bei wildem Wetter, und im Winter, wohnen sie alle wieder zusammen im Haus.

Das Vögelein hat niemals mehr Fernweh, und es sagt oft: „Wie gut, dass ich nicht so groß und stark wie die Störche bin, sondern gerade klein und leicht genug für das Körbchen an der Küchenwand!“

 

Ganz herzlich grüßt die Märchenfrau, wo immer Du gerade bist!

Unterschrift Johanna (c) Johanna Ringe 2014 ff. www.dein-buntes-leben.de

P.S.: Das ist kein überliefertes Märchen, sondern ich habe es geschrieben, heute, für Dich! ©Johanna Ringe 2023