In der letzten Zeit ist mir ein Thema immer wieder begegnet: manche Menschen fühlen sich durch Kaugeräusche ihrer Mitmenschen extrem gestört. Oder durch alle Essgeräusche wie Schmatzen, Kauen, Schlucken, Schlürfen und Abbeißen. Sobald sie mit ihrer Familie am Tisch sitzen, und der erste Löffel Suppe geschlürft wird, oder jemand geräuschvoll ein großes Glas Wasser austrinkt, spüren die Betroffenen eine heiße Wut in sich aufsteigen. Sie können sich dem nicht entziehen, wissen oft gar nicht, wie ihnen geschieht.
Von mir selbst kenne ich das auch. Allerdings nicht immer und nicht bei jedem Gegenüber. Aber doch sehr oft, vor allem morgens, macht mein Kaffee trinkender Mann mich wahnsinnig, einfach nur durch normales Essverhalten. Er ist ein zivilisiertes Wesen, bitte versteht mich hier nicht falsch. Das Problem liegt hier eindeutig bei mir, nicht bei ihm.
Manche Geräusche wecken meine Mordgelüste.
Manchmal ist es das laute Schlucken, dann die hektischen Kratzbewegungen, mit denen ein Joghurtbecher leergegessen wird. Bei anderen ist es das Apfelessen, wie jemand darauf starrt und die nächste Stelle zum Abbeißen sucht. Ein anderer wird schlichtweg wahnsinnig, wenn jemand Kaugummi kaut und auch noch Blasen knallen lässt.
Das sind lauter Dinge, die vermutlich die meisten von uns auch selbst schon getan haben, mehr oder weniger genau so. Und dennoch gibt es Menschen, in denen diese Geräusche ungeheure Aggressionen wecken, wenn andere, vor allem nahestehende, sie von sich geben. Es gibt auch andere verhasste Geräusche, beispielsweise Kinderweinen, Besteckklappern oder Pfeifen. Dabei scheint vor allem die WIederholung eine Rolle zu spielen.
Eine kurze Recherche ergab, dass es dafür sogar ein Wort gibt: Misophonie, aus dem griechischen; „Hass auf Geräusche“. Im entsprechenden Wikipedia Artikel kommt mehrfach der Begriff „krankhafte Anomalie“ vor, aber es gibt wohl keine Klassifizierung, Nummer oder sonstige Klassifizierung. Und das freut mich, denn ich halte dieses Phänomen für ein schlichtes Symptom der hohen Sensibilität vieler Menschen. Dabei spreche ich nicht nur von Hochsensiblen:
Mal mehr, mal weniger sensibel zu sein ist normal.
Abgesehen von den immer wieder zitierten 15-20% der Menschheit, die hochsensibel sind, gibt es auch stressbedingte und krankheitsbedingte Phasen von hoher Empfindlichkeit, die bei den Betroffenen (unabhängig von deren Sensibilität im gesunden Zustand) auftreten. Das heißt im Klartext: wer unter extremer Belastung steht, kann vorübergehend ungeahnte Aggressionen in sich aufsteigen spüren, weil die Herzallerliebste ihren Tee schlürft. Oder das Kleinkind die Nase hochzieht. Oder die pflegebedürftige Mutter geistesabwesend seufzt.
Hier haben wir schon indirekt drei Ausnahmezustände aufgelistet, die mit hoher psychischer Spannung einhergehen: Hochzeitsvorbereitungen, zweite oder dritte Schwangerschaft und Betreuung der greisen Eltern.
Hochsensible in Ausnahmesituationen sind doppelt betroffen.
Zur ohnehin schwächeren Filterfähigkeit der hochsensiblen Person, was jegliche Sinneseindrücke betrifft, kommen hier noch die stressbedingten Empfindlichkeiten hinzu. Das führt dann zu Reaktionen, die von uneingeweihten Außenstehenden als „hysterisch“ oder „verrückt“ bezeichnet werden können. Dabei sind sie normal, den Umständen entsprechend. Wenn der Hochsensible mit seiner Sensibilität offen umgeht, dann gibt er Partner und Familie die Chance, vorbereitet zu sein. Und auch sich selbst.
- Wenn das Apfelfuttern deiner Tochter dich stört, schneide ihr den Apfel in Stücke.
- Wenn es dich rasend macht, dass deine Liebste ihre Suppe kaut, dann nimm es mit Humor, und sag es ihr.
- Wenn deine alte Mutter pausenlos seufzt, dann seufze auch mal tief… das entspannt schließlich deinen Körper. (Und mach eine kleine Pause auf dem Balkon, sobald es möglich ist. Sorge auch für dein Wohlergehen! Zum Umgang mit Grenzen, Nähe und Hochsensibilität siehe auch hier.)
- Wenn dein Süßer unbedingt Kaugummikauen muss, beim Autofahren, dann greif nach deinen Kopfhörern, und suche dir deine Geräuschkulisse selbst aus.
Es gibt viele Beispiele für einen achtsamen Umgang hiermit. Und es gibt auch die Situationen, in denen man dafür keine Kraft mehr hat, und laut wird, oder wütend den Raum verlassen muss, um nichts Unüberlegtes zu tun, denn
Die Ohren schlafen nie.
Aber bitte, dann keine Selbstvorwürfe machen, sondern sich daran erinnern, dass alle Menschen fehlbar sind. Nicht nur die, die die Geräusche verursachen. Du auch. Ich auch. Und mit der eigenen Hochsensibilität umgehen zu lernen heißt eben auch, sie sich zu verzeihen, und manchmal das Heil in der Flucht zu suchen.
Lernfähig sind wir Menschen aber auch. Das nächste Mal klappt es vielleicht mit dem Humor: „Wenn Du noch eine einzige Kaugummiblase knallen lässt, Kind, dann steck ich mich in einen Safe und schließe von innen zu!“ Die folgende irritierte Miene ist es wert, und zumindest kann man keine Kaugummiblasen machen, wenn man mit offenem Mund seine Mutter anstaunt, die gerade unfassbaren Blödsinn geäußert hat!
Herzlichst (und ganz leise!), wo immer du bist,
Liebe Johanna,
deine herrlichen Erzähl-Bilder bringen immer wieder zum Lachen. Und wie erfreut war ich zu lesen, dass ich mit dem Phänomen „Misophonie“ nicht allein dastehe. Danke dir!
Stephanie
Bitte gerne! :-D